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"Es ist immer das gleiche, aber wir sehen sie alle"

Mexikanische Telenovelas zwischen Gewohnheit und Faszination

veröffentlicht in der Zeitschrift IBEROAMERICANA, 4/1995

 

Filmisches Erzählen hat in Mexiko nicht nur im Kino, sondern auch im Fernsehen eine lange Tradition. Mitte dieses Jahrhunderts entwickelte sich im südlichen Nachbarland der USA das Pendant zur Soap Opera: die Telenovela. Seit den sechziger Jahren sehen ZuschauerInnen in ganz Lateinamerika und die Mehrheit der stetig wachsenden spanischsprachigen Bevölkerung in den USA die mexikanischen Serien. Im folgenden wird beschrieben, wie sich ihr Format im Laufe der Jahre entwickelte und was sich dabei an Besonderheiten entfaltete. Um den Erfolg der sehr einfach gemachten mexikanischen Telenovelas zu erklären, wird ihr Rückgriff auf alte Erzähltraditionen herausgearbeitet und gezeigt, wie diese verändert wurden, um das Publikum des 20. Jahrhunderts in ihren Bann zu ziehen.

Entstehung und Entwicklung der mexikanischen Telenovelas

Die mexikanische Medienlandschaft wird von dem Unternehmen Televisa beherrscht. Seine Besitzer hatten für den Aufbau ihrer Medienstruktur mächtige nationale Kapitalgruppen sowie US-amerikanische Unterstützung hinter sich und konnten von Anfang an, d.h., seit den zwanziger Jahren, als in Mexiko die ersten Radiostationen gegründet wurden, die Medienpolitik und das Wachsen der Medienlandschaft beeinflussen. Im Laufe der Jahrzehnte konnten einige wenige Familien fast ein Monopol in der Medienindustrie errichten. Neben Zeitungen und Radiostationen gehören ihnen Unternehmen für Fernsehen, Filmproduktion, Zeitschriften, Videos und viele andere.

Die ersten drei Fernsehstationen entstanden 1950/51 und fusionierten 1955 zu Telesistema Mexicano, dem Vorläufer Televisas. Schon 1952 wurden die erfolgreichen Radionovelas auf den Bildschirm gebracht. Wie ihre Vorläufer (sowie deren US-amerikanisches Vorbild, die Radio-Soap-Operas) lag den Fernseh-Geschichten die Idee zugrunde, Werbespots eingebettet in ansprechenden Geschichten auszustrahlen. Die Erzählungen wurden von Anfang an durch Werbeblöcke unterbrochen, täglich ausgestrahlt und mit einem offenen Spannungsende - dem Cliffhanger - versehen. Die ersten Soap-Opera-ProduzentInnen waren sowohl in den USA als auch in Lateinamerika Waschmittelfirmen, wie z.B. Colgate Palmolive und Procter and Gamble. Sie schufen zentrale Soap-Opera- bzw. Radionovela-Abteilungen in New York und La Habana und verbreiteten die Geschichten auf dem ganzen Kontinent. Sie engagierten und qualifizierten das kreative Personal (AutorInnen, Regisseure; vgl. Trejo 1988: 92) und bezahlten die Radio- und Fernsehanstalten für die zur Verfügung gestellte Sendezeit sowie für technische Ausstattung und technisches Personal. Die zunächst in Kuba und dann auch in Mexiko geschriebenen Drehbücher wurden in den anderen Ländern Lateinamerikas sowohl als Radionovela wie auch später als Telenovela umgesetzt. Für die lateinamerikanischen Geschichten wurde das US-Format mit in Iberoamerika populären Erzählungen vermischt.

Die Fernseh-Geschichten wurden in den ersten Jahren einmal pro Woche mit fünfzehn-, dreißig- oder sechzigminütiger Dauer und mit Fortsetzungen gezeigt. Die Themen und Handlungen der Radionovela wurden vor der Kamera in Szene gesetzt. Da es noch kein Videotape gab, wurden die Novelas wie ein Theaterstück aufgeführt. Die aus diesem Grunde "Teleteatro" genannten Sendungen wurden erst kurz vor der Ausstrahlung entworfen, was eine recht provisorische Inszenierung zur Folge hatte:

"Das Bühnenbild wurde mit Kreide gemalt. ... Wir bekamen einen Bart angeklebt und mussten einmal durchs Bild gehen." (Techniker Televisas)

In Anlehnung an die Technik des Theaters wurde mit Souffleusen gearbeitet. Dieses Prinzip hat man in Mexiko bis heute beibehalten. Es ist der Schlüssel für die große Schnelligkeit der Produktion, denn im Laufe der fortgeschrittenen Technik wurden die "Apuntadores" (die elektronischen Souffleusen) eingeführt: die SchauspielerInnen bekommen ein kleines Hörgerät ins Ohr, von dem ein Kabel unter dem Haaransatz und dann auf dem Rücken bis zu einer Batterie führt. Über dieses Gerät sagt der Souffleur, der in der Regiekabine sitzt, alle Texte und Bewegungen vor. Die SchauspielerInnen lernen keine Texte mehr auswendig, sondern bekommen sie während der Aufnahme direkt ins Ohr gesagt. Viele DarstellerInnen hören in diesem Moment das erste Mal ihren Text und kennen oft auch die Inhalte der jeweils zu spielenden Szenen nicht. Zwischen den Szenen gibt ihnen der Regisseur über die "Apuntadores" Anweisungen. Auf der anderen Seite des Ohres ist das Mikrophon angebracht, was dazu führt, dass zeitraubende Probleme mit der Tonaufnahme entfallen.

Teleteatros wurden in den fünfziger Jahren bis zu viermal pro Woche gesendet, hatten dann aber nur wenige Folgen. Erst die Einführung des Videotapes 1958 ermöglichte die tägliche, serielle Ausstrahlung von Erzählungen im größeren Stil. Von da an wurden die Geschichten "Telenovelas" genannt. Wenige Zeit später - Anfang der sechziger Jahre - beendete das mexikanische Fernseh-Unternehmen seine Praxis, Sendezeit an US-amerikanische Firmen zu verkaufen und übernahm die Produktion selbst. Von da an schnellte die Anzahl der gesendeten Telenovelas sprunghaft in die Höhe. Die Ausstrahlung wurde auf Kanal 2 konzentriert und Telesistema gab ihm das Image des "Kanals für die ganze Familie", und meinte damit: den Kanal, den alle sehen. Telenovelas wurden zum beliebtesten Fernsehprogramm und nahmen einen großen Teil von Kanal 2 ein, dem sie maßgeblich dazu verhalfen, zum meist gesehenen Fernsehkanal Mexikos zu werden. Zeitgleich mit der Übernahme von Telenovela-Produktion und -Ausstrahlung gründete Telesistema eine Exportfirma (1961), um die Serien auch außerhalb des Landes vermarkten zu können.

Mit diesen Veränderungen Anfang der sechziger Jahre wandelte sich der Charakter der Telenovela: die anfängliche Werbesendung - eine Geschichte erzählen, um Produkte ansprechend zu "verpacken" - wurde zu einem eigenem Produkt. Mit der Möglichkeit der Aufzeichnung mittels Video-Tape seit Ende der fünfziger Jahre entwickelte sich aus den mündlichen und schriftlichen Erzählungen, die theaterähnlich in Szene gesetzt wurden, ein eigenes Serienformat.

Telesistema professionalisierte nun die Herstellung der Telenovelas. Das Unternehmen schaffte einen festen personellen Stamm und stellte 1962 die bis in die neunziger Jahre tätigen Produzenten Ernesto Alonso und Valentin Pimstein ein. Erfahrene Regisseure lehnten die Inszenierung stärker an die Filmästhetik an. Als Vorbild diente das "Cine de oro", das mexikanische Kino der erfolgreichen Filmära der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre. Melodramatische Aufladungen wurden durch Naheinstellungen und Close Ups der Gesichter herbeigeführt, die schließlich als Charakteristikum für (mexikanische) Telenovelas galten. Publikumserfolge der großen Kinoära, wie zum Beispiel "Ustedes, los ricos, nosotros, los pobres" mit Pedro Infante, wurden entweder direkt als Telenovelas produziert, oder ihre Inhalte wurden indirekt übernommen.

"Du siehst die Filme der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre, und es sind die gleichen Konzepte, die in der aktuellen Telenovela benutzt werden." (Televisa-MitarbeiterIn)

Die Stars des "Cine de oro" hatten bleibenden Eindruck beim Publikum hinterlassen, so dass die Telenovela-ProduzentInnen versuchten, von dieser Publikumsbegeisterung zu profitieren. Deshalb verpflichteten sie einige der Filmstars für die Telenovelas und kopierten andere.

"Die Heldin, obwohl sie aus der ländlichen Bevölkerung stammt, ist ein Typ wie im Cine mexicano, wie María Felix, Dolores del Rio, diese Schönheiten." (Televisa-MitarbeiterIn)

Durch die Etablierung der Telenovela als wichtigster Bestandteil der Produktpalette Telesistemas entwickelte sich zwar ein eigener Stil in Bezug auf Regie und Produktionsorganisation und die Serien wurden täglich erzählt, doch konnten sie noch nicht über einen längeren Zeitraum ausgedehnt werden. Anfang der sechziger Jahre endete über die Hälfte aller Geschichten nach einer Woche. Nur 18 von insgesamt 58 Telenovelas hatten eine Länge von 30 bis 60 Kapiteln. Der Grund dafür liegt auf der Hand: das Medium Radio erlaubte von Anfang an, Geschichten über einen langen Zeitraum täglich zu erzählen. Das Medium Fernsehen dagegen braucht hoch entwickelte Technik und Organisation, um Erzählungen in diesem Stil zu inszenieren. Das musste sich erst im Laufe der Jahre entwickeln. Die Herstellung von kurzen Geschichten war daher zunächst handhabbarer. Ziel war aber scheinbar ein ähnliches Format wie das der Radio-Sopa Opera bzw. -novela mit langer Erzähldauer. Die technischen Möglichkeiten erlaubten dies in den siebziger Jahren. Die Anzahl der Telenovelas mit einer sehr hohen Kapitelzahl (d.h. über 160 Folgen) war im Zeitraum von 1972 bis 1976 sehr viel größer als in anderen Jahren. Handlungen mit einer Kapitelanzahl von 300 waren zu dieser Zeit die Regel. Sie entstanden entweder durch Öffnen der Drehbücher, wenn die Telenovelas gut anliefen, oder durch von Anfang an offene Handlungsentwürfe. Zu diesem Zeitpunkt glich das mexikanische Telenovela-Format mit den offenen Geschichten stark dem brasilianischen. In den achtziger Jahren ging die Produktion der sehr langen Handlungen zurück, denn es stellte sich heraus, dass die Publikumsbeteiligung bei Verlängerungen der Geschichten abfiel. Bis heute dauern die mexikanischen Telenovelas in der Regel zwischen 140 und 200 Kapiteln.

Mit dieser Entwicklung ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zum US-amerikanischen Vorbild Soap Opera. Diese enthält mehrere gleichberechtigte Handlungsstränge, die auf unbegrenzte Zeit wach gehalten werden. Damit das Publikum darin nicht die Übersicht verliert, werden immer nur drei Handlungsfäden parallel erzählt (Drei-Strang). Weil für die "Lateinamerikanisierung" der Serien von Anfang an ganze - vorher schon populäre - Geschichten auf das Serienformat gebracht wurden, weicht die mexikanische Telenovela von dem auf Unendlichkeit angelegten Handlungsentwurf ab und hat die ZuschauerInnen daran gewöhnt, ein Happy End zu erwarten. Sie hat eine auf wenige Monate begrenzte Erzählzeit und eine Haupthandlung, mit der fast alle Nebenhandlungen verknüpft sind. Dadurch wird es möglich, eine Vielzahl von Handlungssträngen gleichzeitig zu erzählen, ohne das Publikum zu verwirren. Von der brasilianischen unterscheidet sich die mexikanische Telenovela zusätzlich dadurch, dass sie in der Regel vor Ausstrahlungsbeginn fertig gedreht ist und damit nicht auf die für Telenovelas so oft hervorgehobene "Durchlässigkeit zur Aktualität" (Martín Barbero u.a. 1992: 51; Klagsbrunn 1987) zurückgreift.

Telesistema Mexicano blieb auf dem Gebiet der Telenovela-Produktion in Mexiko nahezu konkurrenzlos. Das Unternehmen hatte im Aufbau seiner Fernsehstruktur einen jahrelangen Vorsprung vor staatlicher und kommerzieller Konkurrenz. Mit dem stärksten kommerziellen Gegenspieler - Televisión Independiente de México (TIM) - fusionierte es 1973, und diese beiden gründeten das Konsortium Televisa. Tonangebend waren Romulo O'Farril, Miguel Alemán Velasco und Emilio Azcárraga Milmo. Die beiden erstgenannten schieden 1991 aus dem Unternehmen aus, so dass die Familie Azcárraga nun die Mehrheit der Unternehmensanteile in der Hand hält.

Mit dem großen Vorsprung konnte Televisa - gerade im kapitalintensiven Fernseh-Bereich - stärker werdende Fernsehstationen durch Wettbewerbsvorteile, durch Fusion oder durch ökonomische Vernichtung mit Programmpiraterie, ArtistInnenboykott und Druck über Werbekunden ausschalten. Die mexikanischen Regierungen begünstigten das Medienkonglomerat und erhielten im Gegenzug dafür in Televisas Fernsehprogrammen Legitimationen für die Regierungspolitik und Hilfe im Wahlkampf für die Regierungspartei PRI (vgl. z.B. Bohmann 1986; Trejo Delarbre 1985; 1988). Neben dem mächtigen Fernseh-Giganten haben die kommerziellen Konkurrenten TV Azteca (entstanden aus dem Verkauf zweier staatlicher Sender), der Kabelsender Multivisión und die kleinen Lokalsender keine Chancen, die Dominanz Televisas im Fernsehbereich zu brechen, und noch weniger können die beiden übrig gebliebenen staatlichen Fernsehanstalten ausrichten.

Dank seiner Position kann Televisa mit minimalem Aufwand und qualitativ schlechten Produkten die Werbepreise bestimmen, die zulässige Werbezeit überschreiten und die Arbeit seiner MitarbeiterInnen optimal nutzen. Inhaltliche Spielräume sind sehr eng gesteckt, so dass wenig kreative Kraft in die Herstellung der Programme gesteckt wurde. Für die Produktion der Telenovela - dem wichtigsten Fernseh-Programm - bedeutet dies, dass die Inhalte kaum verändert wurden und die Inszenierung lange Zeit mit der in den sechziger Jahren entwickelten Ästhetik und in sehr schlichter Machart bestehen blieb. Erst das seit den achtziger Jahren stärker umworbene Publikum in den USA und die wachsende internationale Konkurrenz - vor allem die des brasilianischen Unternehmens Globo - veranlasste die mexikanischen Fernseh-Produzenten Ende der achtziger Jahre dazu, große Teile der Produktionsverfahren der US-amerikanischen und des größten brasilianischen Serienproduzenten zu kopieren. Televisa modernisierte die Fernseherzählungen filmtechnisch, richtete sie auf bestimmte Publikumsgruppen aus und differenzierte und spezialisierte die einzelnen Produktionsschritte. D.h., die Gestaltung der Telenovela liegt immer weniger in den Händen einer oder weniger Personen (AutorIn, RegisseurIn, ProduzentIn), sondern teilt sich in viele kleine Einzelschritte auf. Vorher war die Serienherstellung in Mexiko sehr stark von den jeweiligen ProduzentInnen geprägt gewesen.

Im Unterschied zu Televisa hatte Globo zur Zeit seiner Entstehung schon starke Konkurrenz im eigenen Land, so dass von Anfang an die Notwendigkeit bestand, viel innovative Kraft in die Fernseh-Produktion zu investieren. Das marktorientierte Management Globos mit einer gewissen Offenheit für Neuerungen in der Gestaltung der Telenovelas traf sich damit, dass viele Kulturschaffende während der Militärdiktatur nach neuen Betätigungsfeldern suchen mussten und so zu Globo kamen. (Mattelart, A., M. 1987: 47). Aufgrund dieser Bedingungen wurden schon seit den siebziger Jahren die filmtechnische Gestaltung der Telenovelas modernisiert und professionalisiert und die Inhalte an die brasilianische Alltagsrealität angelehnt.

Im Gegensatz dazu wurden Erneuerungen in Mexiko zum einen durch die rigide Unternehmensführung bei Televisa verhindert. Zum anderen kamen erst Ende der achtziger Jahre einige wenige qualifizierte Kulturschaffende zu Televisa, als die wirtschaftlichen Probleme im Land ihre Arbeitsmöglichkeiten immer knapper werden ließen. Für das Fernbleiben kreativer Personen ist neben der Abschreckung durch die rigide Unternehmensführung aber auch der schlechte Ruf von Televisas Fernsehprogrammen verantwortlich. Unter qualifizierten Kulturschaffenden gilt es als peinlich, für das Unternehmen zu arbeiten.

Einen schwer durchschaubaren, aber nicht unerheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Telenovela-Profils hatten unterschiedliche Einstellungen der drei Firmenchefs. So gab es einige Produktionen, bei denen inhaltliche Experimente möglich waren und welche Mittel für aufwendigere Inszenierungen zur Verfügung hatten, als der Präsident Televisas, Azcárraga Milmo, Mitte der achtziger Jahre für etwas mehr als ein Jahr das Land verließ und sein Kompagnon Alemán die Unternehmensführung innehatte. Nach Azcárragas Rückkehr wurden die Mittel wieder gekürzt. Übrig blieb eine filmästhetische und sprachliche Modernisierung, die sich als "moderne Kulisse" für die gleichen inhaltlichen Grundmuster charakterisieren lässt. Mit Blick auf die Einschaltquoten wurde auch der seit Mitte der achtziger Jahre eingeführte stärkere Bezug zu nationalen Eigenheiten, zu nationaler Volkskultur und zur Lebenswirklichkeit der breiten Bevölkerungsschichten beibehalten bzw. ausgebaut. Phänomene der modernen mexikanischen Kultur werden allerdings nur in Telenovelas aufgenommen, wenn sie sich in das von Televisa verbreitete, konservative Weltbild integrieren lassen.

Die Ausdifferenzierung des Produktionsprozesses in den achtziger Jahren mit dem Ziel einer technischen und filmästhetischen Annäherung an einen internationalen Standard führte dazu, dass die Details sorgfältiger ausgearbeitet werden konnten. Die größte Sorgfalt wurde dabei auf die Präsentation von Kulisse und DarstellerInnen gelegt, um sie auf diese Weise eng mit der Warenästhetik verbinden zu können. Man passte die Lebensstile der Figuren der Werbeästhetik an und stellte diese Neuerungen als Qualitätsverbesserung dar. Damit wurde die Telenovela, die einst als "Verpackung" für Werbung entstanden und dann zu einem eigenständigen Produkt entwickelt worden war, noch "schön verpackt".

Die mexikanische Unternehmensleitung entwickelte zwar einen eigenen Seriencharakter, behielt dabei jedoch immer den im Seriengeschäft weltweit führenden Nachbarn USA im Blick. Seit den achtziger Jahren galt ihr größtes Interesse dem spanischsprachigen Publikum in den USA. Was die Entwicklung des Telenovela-Formates betrifft, lässt sich das am deutlichsten an deren Sendezeiten ablesen. Mit zeitlicher Verschiebung zum US-amerikanischen Vorbild betrug die Länge einer Folge am Anfang meist 15 Minuten und wurde bald auf 30 erhöht. Anfang der neunziger Jahre machten die einstündigen Sendungen die Mehrheit aller Telenovelas aus.

Telenovelas nahmen seit den sechziger Jahren täglich drei bis vier Stunden Programmzeit auf Kanal 2 in Anspruch. Die Sendeplätze änderten sich im Laufe der Jahre. Die Hauptsendezeit lag z.B. 1967 zwischen 17 und 20 Uhr. Daneben gab es morgens von 9:30 Uhr bis 10.00 Uhr Novelas, womit sich die Gruppe der Hausfrauen, die um diese Uhrzeit zu Hause ist, als Zielpublikum ausmachen lässt. Seit den siebziger Jahren teilen sich die Geschichten in die vom Spätnachmittag bis zum frühen Abend für Hausfrauen, Kinder und Jugendliche gesendeten und in die Spätabendnovelas für das erwachsene und werktätige Publikum.

Ende der achtziger Jahre fand eine inhaltliche Diversifizierung statt, um Publikumsgruppen anzusprechen, die bis dahin nicht zu den Telenovela-Fans zählten. Während die Telenovelas am Nachmittag im alten Stil verblieben und durch rührselige Geschichten ergänzt wurden, in denen Kinder im Mittelpunkt der melodramatischen Verwicklungen stehen, wurden die Abendnovelas filmtechnisch anspruchsvoller gestaltet und inhaltlich diversifiziert. Die Geschichten um 19 Uhr sprechen ein junges Publikum an, das in Mexiko den größten Teil der Bevölkerung ausmachen. Es wird mit ihm entsprechenden Themen versorgt: die Störung der Eltern-Kind-Beziehung wird nicht mehr so stark durch das Verlorengehen der Eltern thematisiert, sondern durch Probleme, die aufgrund des Zusammenlebens verschiedener Generationen entstehen, Konflikte in Liebes- und Freundschaftsbeziehungen werden auf die Lebensrealität der Jugendlichen zugeschnitten und ihre Vorbereitung auf das Berufsleben wird behandelt (z.B. Traum von der Karriere als Sport- oder Musikstar). Jugendspezifische Lebensstile treten in den Vordergrund: "chavos banda" - Jugendliche aus den Elendsvierteln Mexiko-Stadts, die wie die Punks in Deutschland als jugendliche Subkultur zu Bekanntheit kamen - waren als Figuren Ende der achziger Jahre fast ein "muss" in jeder erfolgreichen Jugend-Novela. In Anlehnung an Musik- und Tanzfilme (wie "Dirty Dancing") wird Rock- und Popmusik integriert. Diese Variationen bleiben jedoch in der Regel Nebenkonflikte innerhalb der herkömmlichen melodramatischen Verwicklungen.

Die Serien des Spätabendprogramms wurden - in Anlehnung an die Erfolge der US-amerikanischen Prime-time-shows (wie z.B. Dallas) - stärker auf ein männliches Publikum ausgerichtet. Die Telenovela-AutorInnen beziehen Aktionsmomente und Darstellungen sexueller Handlungen (Sex and Crime) in die Geschichten ein und schaffen männliche Identifikationsfiguren. Damit ändert sich der Charakter der Serien. Zu den Beziehungsstörungen des "Frauen-Genres" kommt das Verbrechen als Störung der sozialen Regeln hinzu. Während das Beziehungsdrama psychisches (Mit-) Leid und moralische Empörung hervorruft, weckt das "Regel-Drama" eine Spannung durch sensationelle Normverstöße und damit zusammenhängende moralische und psychische Störungen.

Die sensationalistischen und sexistischen Handlungselemente werden als Liberalisierung der Inhalte dargestellt. Doch zusammen mit der Beibehaltung der inhaltlichen Grundmuster führt diese Mischung letztendlich dazu, dass sich konservative Werte und Normen, liberale Verhaltensweisen und sexistisches Gebaren als Brüche und Widersprüchlichkeiten in den Geschichten niederschlagen.

Mexikanische ZuschauerInnen kritisieren die Serien häufig wegen der Darstellung von - in ihren Augen - zu großer moralischer Freizügigkeit. Andere bemängeln die konservative Grundhaltung in den Handlungen. Einig sind sich viele ZuschauerInnen in ihrer Ablehnung von unlogischen Handlungskonstruktionen und von den sehr ähnelnden Handlungen. Trotzdem sehen sie die Serien immer wieder. Und kaum ist eine Geschichte in gang, beginnt das Kritisieren daran von Neuem. Diese ambivalente Haltung des Publikums ist nicht allein mit dem Mangel an (erschwinglichen) Alternativen für Entspannung und Unterhaltung oder mit der Gewöhnung an den jahrelangen Serien-Konsum zu erklären, auch wenn diese Gründe sicherlich eine nicht unwichtige Rolle spielen: Durch die Einbettung der Telenovelas in den Alltag über Jahre hinweg werden diese Teil des eigenen Lebenslaufs. In der Erinnerung können ZuschauerInnen wichtige persönliche Erlebnisse mit dem Sehen bestimmter Telenovelas verbinden. Die Erkenntnis, dass ein generelles Erzählmuster stärker erinnert wird, als einzelne Geschichten oder Charaktere, lässt darauf schließen, dass Telenovela-Sehen wie andere Alltagsroutinen zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, die nicht mehr wegzudenken ist.

"Sie kommen, gucken eine Weile und gehen wieder. Aber es ist wie etwas von der Familie, dass Telenovela gesehen wird. Alle Tage. Alle sehen wir Telenovelas. ... Und manchmal kommst du, und der Fernseher ist aus. ... Als wärst du nicht zu Hause." (Interview)

Außer dem Mangel an Alternativen und der Gewöhnung an Telenovelas als etwas nicht mehr aus dem Leben Wezudenkendes üben die Serien trotz ihrer viel kritisierten Mängel einen Reiz auf das Publikum aus, der unwiderstehlich scheint. Dieser Faszinationskraft soll im folgenden nachgegangen werden, indem sie aus der Tradition der Erzählstrukturen und der Perspektive des Publikums erklärt wird. Dabei kann deutlich werden, dass sich die wesentlichen Elemente der Telenovela schon lange vor Fernsehen und Radio herausgebildet haben und dass die Serien traditionelle Erzählstrukturen mit modernen vermischen.

Alte Geschichten erzählen

Bei Televisa werden äußerst selten eigene Geschichten erfunden. Um keinen Misserfolg zu riskieren, greifen die Telenovela-ProduzentInnen in der Regel auf schon erfolgreiche Erzählungen zurück, wie ehemalige Radionovelas, Kinofilme, Comic (Heft-) - Geschichten und europäische Feuilletons des 19. Jahrhunderts. Sie füllen sie mit Telenovela-üblichen Plots und versehen sie mit aktuellen Bezügen und einigen "Erfolgsrezepten", die meist aus Hinzufügung von sensationalistischen Elementen bestehen. Mit den erfolgreichen Geschichten übernimmt Televisa nicht nur deren Themen, sondern auch deren Strukturen. Dies betrifft vor allem die des Feuilletons, der gerade während der Entstehung der Telenovelas sehr häufig als Vorlage diente und maßgeblich für die "Lateinamerikanisierung" der Soap Opera sorgte. Ein Grund für die direkte Übernahme der Feuilleton-Erzählungen mag darin gelegen haben, dass sie noch bis ins 20. Jahrhundert hinein in Lateinamerika sehr populär waren und sich mit anderen, traditionellen Erzählformen mischten. Für den Feuilleton-Roman seinerseits, der Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa entstand, griffen dessen AutorInnen auf wesentliche Elemente des Melodramas zurück. Sie bedienten sich der gleichen Bilder, Gefühle, Ideen sowie ganzer Geschichten und übernahmen seine Erzählstrukturen (Schmidt 1986: 214 f). Das Melodrama selbst entwickelte sich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aus der Überlagerung, Kombination und Umwandlung vieler verschiedener, meist volkstümlicher Erzähl- und Darstellungsformen. Im wesentlichen wurde das Jahrmarkt- und Stegreifspiel mit dem Drama vermischt. Das vorwiegend kommerzielle Interesse der TheaterproduzentInnen an möglichst billigen und erfolgreichen Aufführungen für das zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstehende Massenpublikum führte dazu, dass bereits erfolgreiche Werke von bekannten AutorInnen adaptiert und - wie bei den Straßenspektakeln - mit vielen Showelementen versehen wurden (Schmidt 1986: 15; 90). Die Orientierung am Massenkonsum mit leicht erfassbaren und gefälligen Erzähl- und Darstellungsformen gibt es also nicht erst seit dem weltweiten Export der Soap Operas und Telenovelas im Zeitalter der elektronischen Medien.

Neben der direkten Beerbung durch Feuilleton und Melodrama gehen indirekt weitere Erzählformen in die Telenovela ein. Sehr deutlich ist dies beim Märchen. Neben dem "Aschenputtel-Motiv" (die Liebe zwischen armem Mädchen und reichem Jüngling wird durch Intrigen bedroht) ist es vor allem das des "Schneewittchens" (böse Stief- oder Schwiegermutter schafft gutem Mädchen Leiden), das sehr häufig für Telenovelas benutzt wird. Die Heldinnen, die am Ende ihre reiche Mutter wieder finden, sind vergleichbar mit Prinzessinnen, die bis zum Schluss nicht wissen, dass sie es sind. Macht und Reichtum der Bösen sind oft so groß, dass sie an MärchenkönigInnen erinnern, deren Häuser (Schlösser) allerdings nach der neuesten Mode eingerichtet sind. Die Erzählstrukturen der Märchen weisen Charakteristika auf, die sich in ähnlicher Form in Melodrama, Feuilleton und Telenovela wieder finden. Je nach herrschendem Weltverständnis und Rezeptionsmöglichkeiten und -verhalten können sie an die neuen Bedingungen angepaßt sein.

Alltags-Konsum

Alle hier erwähnten Erzählformen ermöglichen eine Rezeption, die keine Anstrengung erfordert. Die Formelhaftigkeit der Märchen (drei Herausforderungen, drei Brüder etc.) half den ZuhörerInnen, die mündliche Erzählung zu behalten. Der europäische Feuilleton des 19. Jahrhunderts war billig zu kaufen und leicht lesbar (einfache Schrift und Sprache sowie wöchentliche kurze Episoden; Martin Barbero 1987b: 149 ff). Die Radio- und Fernseherzählungen in Lateinamerika werden kostenlos ausgestrahlt und enthalten so viele Redundanzen, dass sie ohne Mühe "gelesen" werden können.
Der Fortgang der Handlung ist in allen Fällen streng linear. In den Erzählungen gibt es kein In- und Miteinander, sondern nur Neben- oder Nacheinander. In der Telenovela darf sie höchstens von Flash-backs unterbrochen werden. Im Märchen werden die Einzelsituationen statt durch eine übergreifende Fabel durch ein "und dann..." zusammengehalten. Im Melodrama verbindet sie der Dialog zwischen den Figuren. Dadurch wird der Eindruck von Vielfalt und Fülle innerhalb eines überschaubaren Gesamtzusammenhanges erzeugt, der nicht reflektierend erschlossen werden muss.

Die relativ schematische Ordnung der populären Erzählungen wird durch klar ausgeprägte Erzähllinien ergänzt, die schlagartig die Handlung verändern. Abrupte Stimmungswechsel zwischen den Szenen erwecken den Eindruck von Bewegung (vgl. Schmidt 1986: 204). Seit dem Fortsetzungsroman des 19. Jahrhunderts unterbricht der Cliffhanger diese Erzählweise zusätzlich. Die Übertragung der Geschichten auf elektronische Medien führte dazu, dass die Fragmentierung durch Werbeeinschübe verstärkt wurde.

Die Wechsel sind eingebettet in Kontinuität und Dauer der Erzählung. Die Figuren werden dadurch für das Publikum zu guten Bekannten. Die populäre Erzählung lebt von der Verfügbarkeit über Zeit. Sie findet um des Erzählens willen statt und schließt eine Geschichte an die andere an (Benjamin 1980: 399 f). Die Telenovela-Erzählung okkupiert aufgrund des hinter ihr stehenden kommerziellen Interesses so viel Publikumszeit wie möglich. Die Geschichten werden ausgebreitet und verlängert, wenn das Publikum Gefallen an ihnen findet.
Die Fragmentierung der Telenovela-Handlung erlaubt, ja nötigt das Publikum geradezu, während der vielen Werbeunterbrechungen andere Dinge im Haus zu tun und trotzdem unterhalten zu werden. Gerade in Mexiko, wo Menschen immer weniger Pläne machen können, je weniger Macht sie haben, passt die Telenovela gut in die Gegenwartsorientierung des Publikums. Sie ist immer zuverlässig präsent, unmittelbar zugänglich und erlaubt eine passive, einfache Aufnahme. Darin eingebettet erleben die ZuschauerInnen Überraschungen und Abwechslung und damit Bewegung im sonst bewegungsarmen Alltag. Auch zur Arbeit der Hausfrau und Mutter passen die vielen Wechsel sehr gut, denn Hausarbeit ist ohnehin fragmentiert (für alle(s) ein Auge haben), wird andererseits durch die Telenovela aber noch zerstreuter. Die populäre Erzählung ist übersichtlich, eindeutig und immer im Haus präsent.

Der Wechsel zwischen Spannung und Konfliktentladung entspricht der weiblichen Prägung, in der Sorge um die Familienmitglieder abrupt von einer Gefühlslage in die andere zu wechseln. Ferner erlaubt die Telenovela der Frau hin und wieder eine Trennung der sonst nicht trennbaren Muße von ihrer Arbeit, indem die Zuschauerin die Sendezeit der Lieblingsnovela als "ihre Zeit" beanspruchen kann.

Das kommerzielle Interesse, Zeit des Publikums so lange wie möglich zu beanspruchen, trifft sich mit den Wünschen der ZuschauerInnen, die möchten, dass ihre Zeit möglichst angenehm - unterhaltsam - besetzt wird. Die Telenovela-Erzählung lehnt sich an das langsame Verstreichen der Alltagszeit an und durchbricht sie gleichzeitig mit Elementen, die aus Routine und Monotonie herausragen.

Plausible Wunder

Die Handlung wird in allen hier behandelten Erzählformen aus einer Ruhesituation heraus durch einen Mangel in Gang gebracht, der eine Aufgabe bzw. einen Kampf auslöst, dem Glück folgt. Die behandelte Krise erzeugt eine Spannung beim Publikum, die auf dem Wunsch basiert, wissen zu wollen, dass und wie die Krise aufgelöst wird.

Die Telenovela folgt - auf der Basis der melodramatischen Grundstruktur - immer demselben Handlungsschema: in eine anfängliche Ordnung tritt das Böse und versetzt die Guten in einen Zustand der Ohnmacht. HelferInnen der Heldin durchschauen das Spiel, doch die SchurkIn ist immer einen Schritt voraus. Schließlich hilft das Schicksal und bringt das Böse zu Fall. Die Spannung beruht auf der Erwartung einer Auflösung des dargestellten Konfliktes. Zusätzlich behindert wird die Konfliktlösung dadurch, dass einige Figuren bestimmte "Geheimnisse" nicht kennen und entweder nach und nach oder ganz am Ende entdecken. Beim Märchen handelt es sich meist um ein Wissen aus einer "anderen Welt". Seit dem Melodrama verbirgt eine Figur Wissen um seine Person, was zu Kommunikationsstörungen führt.

In der Telenovela findet sich die Einteilung der Handlung in drei Akte. Nachdem die Hauptfiguren knapp vorgestellt werden, beginnt die Handlung so früh wie möglich mit der Entwicklung eines Konfliktes. Dieser Konflikt gipfelt zwischen dem dreißigsten und dem fünfzigsten Kapitel in einer Krise. Die krisenhafte Situation, in der die Guten unter den von den Bösen verursachten Widrigkeiten leiden und versuchen, sich dagegen zu behaupten, wird bei der Telenovela so lange wie möglich ausgedehnt. Hier lassen sich viele Erzählschleifen einbauen, die durch die Hauptfiguren zusammengehalten werden. Etwa dreißig Kapitel vor Ende der Telenovela wendet sich das Schicksal zugunsten der Guten, die in den letzten fünf Kapiteln alle ihre Sorgen gelöst sehen. Hierin besteht ein wesentlicher Unterschied zur nie (glücklich) endenden US-amerikanischen Soap Opera.

Eine schlechte Dramaturgie (fehlende Spannung und Inkohärenzen in der Handlung) und schlechte Darstellung führen zur Verärgerung des Publikums, weil sie eine intensive Anteilnahme verhindern. Die Geschichten werden in Mexiko oft so weit in die Länge gezogen, dass der Spannungsbogen nicht mehr ausreicht und die ZuschauerInnen sich langweilen. Wenn sie dennoch weitersehen, liegt es zum einen daran, dass die Cliffhanger die Neugier so stark wecken, dass die Fans trotz ihrer Verärgerung über die fehlende Spannung immer wieder einschalten. Nicht wenige ZuschauerInnen ärgern sich über sich selbst, weil sie sich auf diese Weise von den offenen Enden "versklavt" fühlen. Damit ist das Ziel dieser Sendeform, eine hohe Bindung an das Produkt durch Spannungsbogen und Cliffhanger zu erlangen, erreicht. Der tägliche Abbruch der von der Telenovela hervorgerufenen Bewegung ist für viele schwerer zu ertragen, als die Langeweile, die auftritt, wenn der Handlungsfaden am nächsten Tag wieder aufgenommen und nur mit mäßiger Spannung und Kohärenz bis zum nächsten Cliffhanger weitergeführt wird. Deshalb können sich die ZuschauerInnen über schlechte Telenovelas ärgern und trotzdem danach trachten, keine Folge zu versäumen.

Um die nach Auflösung des Cliffhangers wieder eintretende Langeweile zu vertreiben, verrichten die ZuschauerInnen nebenbei andere Tätigkeiten oder (bzw. und) suchen ihr Vergnügen darin, sich über die Erzählung zu erheben und sie zu kritisieren oder sich darüber lustig zu machen.

"Immer machte ich eine Handarbeit, weil ich ungeduldig wurde bei der ganzen Werbung. Wenn es mich interessierte, schaute ich aufmerksamer hin." (Zuschauerin)

"Wir sehen sie alle, aber irgendwann machen sie uns sauer, weil es immer die gleiche Handlung ist." - "Sie heiraten und bringen sich um" - Und fünf Männer streiten um dieselbe Frau." (ZuschauerInnen)

"Ich sehe 'Teresa`, um zu lagen und zu sagen: So ein Quatsch. ... als Zeitverteib, sehr leicht, weil du nicht da sitzen und sie schauen musst." - "Es gefällt uns, uns über die Personen und die Machart lustig zu machen, sie zu kritisieren, zu diskutieren." (ZuschauerInnen)

Anteilnahme, Spannung, Langeweile und Spott finden sich nicht selten gleichzeitig.

Das nicht-tragische Ende der melodramatischen Telenovela beinhaltet ebenso wie beim Märchen eine Form der Unsterblichkeit, da der abschließende, glückliche Zustand über die Serie hinaus erhalten bleibt. Es wird im Märchen durch eine "wunder - bare" Fügung herbeigeführt, die als Selbstverständlichkeit erscheint. Das Wunderbare taucht in einer Art säkularisierter Form in den modernen populären Erzählungen wieder auf: als Sensation, die Staunen über Außergewöhnliches hervorruft. Es verliert allerdings nie die potentielle Überprüfbarkeit. Kurz vor der Unmöglichkeit bleibt sie immer im Bereich des Möglichen, Realistischen. Nicht mehr Zwerge und Feen, sondern gute FreundInnen wirken im Hintergrund, und nicht ein Zaubertrank, sondern das - zufällige oder schicksalhafte, aber letztlich plausible - Zusammentreffen verschiedener Personen und Umstände hilft den HeldInnen, das Böse zu überwältigen und ihr Glück zu finden.

Die modernen Ansprüche auf Nachprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit machen aus dem Staunen über das Wunderbare der traditionellen Volkserzählung einen neuen Reiz: die moderne Erzählung wird mit der direkt oder indirekt erfahrenen Realität verglichen und an ihr gemessen. Die ZuschauerInnen empfinden einen Genuss daran, kompetente BeurteilerInnen darüber zu sein, ob die Telenovela die Realität "richtig" oder "falsch" abbildet. Damit hat sich die Konsequenz aus dem modernen Weltverständnis, demzufolge das Subjekt in der Lage ist, die Welt an seinen Maßstäben (objektiv) messen zu können, "popularisiert". Der populäre Maßstab ist der Alltag und die Analogie zu dem selbst Gewussten. Das Publikum möchte allgemeinste Bilder spontan und oberflächlich erkennen und beurteilen.

Wenn der Zufall die dramatische Handlung auflöst, bringt er Konstellationen hervor, die gleichzeitig den Wünschen der ZuschauerInnen, "wie es in der Welt zugehen soll", entsprechen (Schmidt 1986: 167). Zwar müssen die Figuren eigene Anstrengungen für die Erlangung von Glück unternehmen, doch hängt die Erfüllung letztendlich nicht von ihnen ab. Damit ermöglicht die Erzählung das Staunen über Außeralltägliches und den Traum von "Wundern", die Konflikte beseitigen, ohne dass man selber die Verantwortung dafür hat. Diese Befriedigung der subjektiv empfundenen Sehnsucht nach Ausgleich lässt sich als "Ethik des Geschehens" bezeichnen. Sie antwortet nicht auf die Frage "Was muss ich tun?", sondern auf die Frage "Wie muss es in der Welt zugehen?". Tragik wird damit verneint zugunsten einer eindeutigen moralischen Position. Damit wird der tragische Gehalt, wie er z.B. in klassischen Dramen zu finden ist, popularisiert und die Katharsis-Funktion umgekehrt. Im Melodrama scheitern die Figuren nicht an höheren Gesetzen oder eigenen Unzulänglichkeiten, wie im tragischen Konflikt, sondern sie werden durch von außen an sie herangetragene Umstände oder Bösartigkeiten in Not gebracht (Schmidt 1986: 108 ff). Tragik liegt im Melodrama - wie im Märchen - nicht in einer inneren Gespaltenheit der beispielhaften Figuren, sondern im Aufeinandertreffen von nach außen verlagerten, klaren Gegensätzen von moralischen Einstellungen und Gefühlen, wie Gut und Böse, Hass und Liebe, Opfer und Sieger etc. Die Konflikte sind damit von den Individuen getrennt, das Mitleid des Publikums wird distanzlos und provoziert keine Reflexion und somit keine Katharsis im Sinne einer Affektbefreiung, sondern im Gegenteil: es schafft eher eine emotionale Aufladung (vgl. Geiger/Haarmann 1978: 20 ff; Schmidt 1986: 98 ff). Tragik bezeichnet somit im Melodrama das Gefangensein im unverschuldeten, von außen kommenden, schweren Unglück, aus dem die Opfer nur mit Hilfe des Zufalls oder des Schicksals wieder befreit werden können. Die Opfer und ihre HelferInnen haben in der Telenovela lediglich die Aufgabe, dem Schicksal "unter die Arme zu greifen". In der Unübersichtlichkeit der modernen Welt sind solche eindeutigen Erklärungen für eigenes Leid sehr attraktiv.

Tragik ohne eigene Verantwortung, die moralisch eindeutig zuzuordnenden Figuren und das Happy End sorgen für einen überschaubaren, melodramatischen Rahmen. Überraschungen, unstabile Situationen und Geheimnisse sowie Variationen bei Themen, Figuren und Handlungsplots rufen eine Unordnung hervor, schaffen den Drang nach Ordnung und machen das Publikum neugierig auf die Auflösung der ungeordneten Verhältnisse und der Geheimnisse. Es bereitet ihm Vergnügen, die Überraschungen vorherzusagen. Spannung entsteht an der Frage, ob die eigenen Vermutungen und Voraussagen eintreffen, oder ob die Handlung durch ganz andere Variationen zu einer überraschenden Wendung gelangt. Dieser Kontrast zwischen Sicherheit und Neugier verbürgt gleichzeitige Gefühle von Ruhe - alles ist überschaubar - und Lebendigkeit - alles ist in Bewegung.

Der Publikumswunsch nach Sicherheit lässt sich gut mit dem Interesse Televisas verbinden, die bestehenden Verhältnisse zu manifestieren. Die Befriedigung der Neugier der ZuschauerInnen könnte im Prinzip darüber hinausweisen, ohne das Sicherheitsbedürfnis zu vernachlässigen. Sie kann aber auch dadurch stattfinden, dass die immer gleichen Konstellationen durch geschickte dramaturgische Konstruktionen lediglich zu einem semantischen Anschwellen gebracht werden, wie es in mexikanischen Telenovelas die Regel ist. Auf diese Weise wird der Wissenshorizont der ZuschauerInnen bewegt, aber nicht erweitert. Das entspricht den Bedürfnissen einiger ZuschauerInnen. Andere vermissen das über den eigenen Horizont Hinausweisende.
Mit der Popularisierung der Tragik ist in Volks- bzw. Massenerzählungen in vielen Fällen ein sozialer Aufstieg verbunden: der/die HeldIn wird nicht nur verfolgt bzw. bedroht, sondern seine/ihre wahre Identität ist verhüllt. Die Rettung der Figur am glücklichen Ende fällt zusammen mit der Aufdeckung der wahren Identität. Über diese Konstruktion wird es möglich, dass arme Figuren "über Nacht" reich werden. Der Unterschied zwischen dem traditionellen Märchen und dem modernen Feuilleton besteht in der Art und Weise, in der ein sozialer Aufstieg möglich wird: anstelle der "wunder - baren" Verwandlungen und Gaben führen nun zufällige Begegnungen im Großstadtdschungel (Arm heiratet Reich oder findet reiche Angehörige) dazu, dass soziale Probleme gelöst werden. Damit wird die Säkularisierung der wunderbaren Auflösungen mit den realen Erfahrungen des modernen Massenpublikums verknüpft. In Europa breiteten sich Melodrama und Feuilleton im 19. Jahrhundert aus, als große Massen in die Städte strömten. Die Geschichten können mit ihren verwickelten sozialen Netzen, in denen die Figuren miteinander verbunden sind, Probleme der Urbanisierung aufgreifen. Das erklärt, warum die europäischen Fortsetzungsgeschichten des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika im 20. Jahrhundert so erfolgreich werden konnten: sie sprachen ähnliche gesellschaftliche Probleme an, die sich dort im Zuge der "nachholenden Industrialisierung" etwa ein Jahrhundert später ergaben.

Urbanisierung und die damit verbundene Massenmigration haben zur Folge, dass traditionelle, überschaubare soziale Zusammenhänge aufgegeben werden. Die Menschen begegnen einander als Fremde, die Unübersichtlichkeit der sozialen Beziehungen führt zu normativer Unsicherheit und die Auflösung von sozialen Zusammenhängen führt dazu, dass Beziehungen grundsätzlich instabiler werden.

Die mehrsträngige Erzählung mit dem komplexen, aber für das Publikum überschaubaren sozialen Netz hebt Fremdheit auf zwei Ebenen auf: auf der para-sozialen agieren die ZuschauerInnen mit den Figuren und nehmen intensiv an ihrem Schicksal Anteil. Sie bekommen Anregungen für die zweite, die soziale Ebene, auf der sie mit anderen über diese Figuren und damit über Dinge zu reden, die sonst im Privaten verborgen sind. Über die "Fremden" - das können auch die Nachbarn sein - lässt sich so auf unverbindliche Weise etwas erfahren.

Die Aufhebung des Sich-Fremd-Fühlens ergibt sich in der para-sozialen Interaktion dadurch, dass die tägliche Begegnung mit den Figuren diese zu guten Bekannten macht. Zudem macht das Publikum die - wenn auch nur virtuelle - Erfahrung, dass die Menschen mitten unter Fremden Bekannte und Angehörige (zu ihnen Gehörende) wieder finden, die sie verloren hatten. Die fremde Person entpuppt sich als eine, die zu mir gehört und dadurch emotionale und soziale Sicherheit verleiht (und außerdem noch sozialen Aufstieg bedeutet). Das Happy End - Menschen bleiben für immer zusammen - hinterlässt das Gefühl von emotionaler Stabilität.

Normative Sicherheit kann die moderne populäre Erzählung stärken, indem sie einen Blick in die "geheimen Normzentralen" der anderen ermöglicht und Modelle sozialen Handelns zeigt, an denen sich das Publikum abarbeiten kann. Außerdem können sich die ZuschauerInnen aufgrund ihres Überblickes über die komplexen sozialen Netze als kompetente BeurteilerInnen von Sozialbeziehungen fühlen und diese Kompetenz im Gespräch mit anderen abgleichen. Besonders Frauen, die für die Pflege sozialer Beziehungen zuständig gemacht wurden, können hieran ihre soziale Kompetenz aktivieren und wenigstens virtuell die komplexe soziale Welt durchschauen und in ihr soziale Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Damit wird ferner ihre Ausgrenzung aus der Öffentlichkeit aufgehoben und sie treten aus der passiven Beobachterinnenposition heraus. In der para-sozialen Kommunikation geschieht dies virtuell, in der sozialen aktiv.

Schön weinen

Die Weckung von Anteilnahme des Publikums am Schicksal der fiktiven Personen ist elementar für den Erfolg der populären Erzählungen. Damit sie stattfindet, muss es sich wieder erkennen können. Gleichzeitig muss es etwas über das Bekannte Hinausweisende entdecken. Die Lust an der Erzählung braucht Anteilnahme und Distanz. Ein reines "so-wie-ich" und ein reines "ganz-anders-als-ich" hebt die Spannung zwischen Nahem und Fernem auf. Diese macht die Unterhaltung aber gerade attraktiv. Deshalb ist Skepsis angebracht, wenn ZuschauerInnen das distanzierte Lustig-Machen als einzigen Reiz für das Sehen nennen oder wenn behauptet wird, ZuschauerInnen könnten keine Distanz mehr einnehmen. Auch wird erklärbar, dass viele ZuschauerInnen in Mexiko sich ärgern, weil sie eigentlich gerne die Geschichten sehen, aber ihre Anteilnahme dadurch gehindert werden, weil die Konstruktion der Plots oder die schlechten DarstellerInnen die Novelas für sie "un - realistisch" werden lassen.

Ohne Wiedererkennung (wie es z.B. bei einem Dokumentarfilm der Fall sein kann) wird die Erzählung nicht so genossen, weil erst durch sie eine persönliche Anteilnahme geweckt wird. Auch reine Wiedererkennung hat für die ZuschauerInnen oft keinen Reiz, denn erst Wiedererkennung und Neugier zusammen bilden ein Spannungsfeld, das Gefühle von sozialer und psychischer Beweglichkeit vermittelt.
Die Möglichkeit, Anteil am Leben der Figuren zu nehmen und damit Teil der Handlung zu werden, erlaubt ein intensives, situatives Miterleben von dramatischen Entwicklungen, Leid, Traurigkeit und Freude, ohne jedoch selber mit konkreten Konsequenzen konfrontiert zu sein. Wenn einE ZuschauerIn eine Erzählung lobt mit den Worten "Ich hab' so schön geweint!", dann bezeichnet er/sie damit den Genuss an ungebrochenen Gefühlen, die nicht zu Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit führen. Sie sind real, werden aber in fiktiven Welten glücklich aufgelöst. Im Alltag, der oft wenig Möglichkeiten bietet, sich den eigenen Gefühlen hingeben zu können, erlaubt die Anteilnahme ohne Handlungszwang emotionale Intensität und Lebendigkeit.

Bei der Konstruktion von Bekanntem und Fremdem lassen sich auch wieder Verbindungen zwischen verschiedenen Erzählformen ausmachen. Das "Fremde" bestand im Märchen aus Erfahrungen, die in der Ferne oder in vergangener Zeit gesammelt wurden (Benjamin 1980: 385 ff), Feuilleton und Telenovela bringen es durch fiktive Gehalte hinein, die allerdings nicht geografisch oder zeitlich "fern", sondern eher außeralltäglich sind. Somit wird das Alltägliche dramatisiert (Murdock 1987: 68). Um Dramatik zu erleben, müssen die ZuschauerInnen den Alltagshorizont nicht verlassen. Nicht selten symbolisiert die Welt der Reichen das ganz Andere. Das "Nahe", das an die realen Erfahrungen des Publikums anknüpft, drückt sich bei allen hier behandelten populären Erzählungen in der Durchschnittlichkeit und Alltäglichkeit der Figuren aus. Eine reiche - ganz andere - Figur hat also durchschnittliche Empfindungen und Haltungen und ähnelt damit einem großen Teil des Publikums.

Die Allgemeinheit der Figuren wird dadurch hergestellt, dass sowohl die Charaktere als auch die durchlebten Situationen und ihre Auflösungen flächenhaft und in entgegengesetzten Polen gezeichnet sind. Seit dem Melodrama dienen der Dialog, der körperliche Ausdruck, die äußere Erscheinung, der szenische Raum und die Klangeffekte zur oberflächlich-eindeutigen Bezeichnung von Figuren und Situationen. Das "Melos" im Drama bedeutet, dass das Gesprochene durch Musikuntermalung und Mimik (als stummer Begleitmusik) verstärkt bzw. erklärt wird. Was die Worte nicht an Empfindungen mitteilen können, übernimmt die musikalische Untermalung (Schmidt 1986: 57 ff; 127 ff). Die typisierten Modelle sind in allen hier behandelten Erzählformen in Bezug auf Zeit und Raum kulturell unterschiedlich ausgestaltet. Kulturell übergreifend ist jedoch, dass sie sehr intensiv geschildert werden (Stamer 1985: 12). Flächenhaftigkeit der Darstellung und moralische Polarisierung ermöglichen ein sofortiges Einordnen und Erklären von dramatischen Konflikten. Erzählungen mit solchen Elementen sind populär, weil sie sich gut in einen Alltag einfügen lassen, der keine Kulturrezeption in aufgeräumter, konzentrierter Situation erlaubt.

Der Unterschied zwischen Märchen, Melodrama und Telenovela besteht darin, dass im Märchen nur selten Gefühle zur Sprache kommen (Märchenhelden können z.B. als grausam geschildert werden, ohne dass dies als moralisch verwerflich gilt), während sie in der Telenovela gerade im Hauptinteresse stehen. Aufgrund der Gleichgültigkeit gegenüber den emotionalen Folgen eines Ereignisses wird im Märchen nicht das Böse oder das Gute selbst behandelt, sondern nur die ungerechte oder gute Situation, die es hervorbringt und welche die HeldInnen aus dem Weg räumen (Jolles in Schödel 1977: 41 f). Demgegenüber ist es im Melodrama und in der Telenovela sehr wichtig, sowohl die Ausprägungen des Bösen und des Guten als auch die Bestrafung und die Belohnung und die damit verbundenen Gefühle jeweils ausführlich zu schildern. Darin lehnen sie sich an das bürgerliche Drama an: Gefühle sind der menschlichen Verstellung und menschliche Stärken dem gesellschaftlichen Stand überlegen (Geiger/Haarmann 1978: 36 f). Allerdings ist für das Bürgertum die Kontrolle der Gefühle wichtig, während im Melodrama die Affekte eher verstärkt werden.

Der Weg zu der besseren Welt führt sowohl im Märchen, als auch in der Telenovela nicht unbedingt über Intelligenz, sondern im Märchen sind es z.B. Mut oder ein Verständnis der "Sprache der Dinge" (Wollenweber, zit. in Schödel 1977: 65), die zum Ziel führen. In der Telenovela stellen z.B. das richtige Gefühl und die Bewahrung der persönlichen Würde wichtige Antriebskräfte für den Weg zum Ziel dar. Gefühl und Tugend sind identisch. Die alltäglichen Figuren können auch großartige Gefühle und ein gesellschaftlich anerkanntes Moralempfinden haben.  Mit diesem Unterschied werden entscheidende kulturelle Veränderungen in die Erzählung aufgenommen. Seit der Aufklärung werden Erklärungen der Welt im Diesseits gesucht. Das Individuum und seine unmittelbare Wahrnehmung wird zum Bezugspunkt für das, was als real gilt. Nach Richard Sennettt wird dadurch umgekehrt auch von jeder Äußerung der Menschen darauf geschlossen, "wer sie wirklich sind" (Sennett 1983: 198). Demnach wird eine Person nicht mehr daran gemessen, was sie tut, sondern daran, wer sie ist, beziehungsweise, wie sie sich als Person darstellt. Nach Sennett führt dies dazu, dass sich die Menschen bemühen, in der Öffentlichkeit vorsichtig mit ihren Äußerungen zu sein und sich auf das passive Beobachten zu verlegen. Der Privatraum wird zur "Schutzzone", in der man vor der Öffentlichkeit verborgen zeigen kann, "wer man wirklich ist" (Sennet 1983: 192).
Gerade das Melodrama dringt nun in diese Schutzzone ein und zerrt die Geheimnisse der Privatsphäre ans Licht. Dies ist umso attraktiver für Frauen, da ihre weibliche Beziehungsarbeit sonst völlig aus der sozialen Sphäre in der "Dunkelkammer" der Familie unsichtbar wird. Das Wiedererkennen - die Anknüpfung an die Alltagsrealität - setzt also im Melodrama genau daran an, zu erkennen, wer der andere ist, der/die sich in der Öffentlichkeit verbirgt. Für das Publikum ist eine Identifikation, also ein "so wie ich", innerhalb eines solchen Verständnisses über eine Wesensgleichheit zu vermitteln. Es ist nicht so bedeutsam, was die Figur tut - ob sie z.B. in einem Büro oder im informellen Wirtschaftssektor arbeitet -, sondern wie sie fühlt. Telenovela-ZuschauerInnen heben z.B. nicht so sehr hervor, welche ökonomischen Probleme eine Figur hat, sondern "dass sie so viel leiden muss, und das kenne ich auch."  Alle hier aufgezeigten Linien und Weiterentwicklungen von traditionellen zu modernen populären Volkserzählungen zeigen somit, dass die Telenovelas beziehungsweise ihr Vorbild Soap Opera nicht erst seit der Entstehung des Fernsehens oder des Radios ihre Massenattraktion entwickeln konnten, sondern dass bestimmte Erzählstrukturen an den jeweiligen gesellschaftlich-kulturellen Kontext und an die jeweilige Erzählmedien angepasst wurden. Das weltweit für breite Massen zugängliche Fernsehen ist der Geschichten-Erzähler der modernen Welt. Deshalb müsste nicht nur die (angebliche?) entfremdende Wirkung beklagt werden, sondern es wäre lohnenswert, darüber nachzudenken, auf welche Weise gute Geschichten erzählt werden können. Die Lust des Publikums ist schon da.

 

Literatur

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Sennett, Richard 1983: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt a. M.

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