was ist das?
ihre
geschichte
wie sie entstehen
die konkurrenz
der streit darum
... aber wir sehen sie alle
Service & mehr

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"Es ist immer das gleiche,
aber wir sehen sie alle"
Mexikanische Telenovelas zwischen Gewohnheit und Faszination
veröffentlicht in
der Zeitschrift IBEROAMERICANA, 4/1995
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Filmisches Erzählen hat
in Mexiko nicht nur im Kino, sondern auch im Fernsehen eine lange
Tradition. Mitte dieses Jahrhunderts entwickelte sich im südlichen
Nachbarland der USA das Pendant zur Soap Opera: die Telenovela. Seit
den sechziger Jahren sehen ZuschauerInnen in ganz Lateinamerika und
die Mehrheit der stetig wachsenden spanischsprachigen Bevölkerung in
den USA die mexikanischen Serien. Im folgenden wird beschrieben, wie
sich ihr Format im Laufe der Jahre entwickelte und was sich dabei an
Besonderheiten entfaltete. Um den Erfolg der sehr einfach gemachten
mexikanischen Telenovelas zu erklären, wird ihr Rückgriff auf alte
Erzähltraditionen herausgearbeitet und gezeigt, wie diese verändert
wurden, um das Publikum des 20. Jahrhunderts in ihren Bann zu ziehen. |
Entstehung und Entwicklung der
mexikanischen Telenovelas |
Die mexikanische Medienlandschaft wird
von dem Unternehmen Televisa beherrscht. Seine Besitzer hatten für den
Aufbau ihrer Medienstruktur mächtige nationale Kapitalgruppen sowie
US-amerikanische Unterstützung hinter sich und konnten von Anfang an,
d.h., seit den zwanziger Jahren, als in Mexiko die ersten
Radiostationen gegründet wurden, die Medienpolitik und das Wachsen der
Medienlandschaft beeinflussen. Im Laufe der Jahrzehnte konnten einige
wenige Familien fast ein Monopol in der Medienindustrie errichten.
Neben Zeitungen und Radiostationen gehören ihnen Unternehmen für
Fernsehen, Filmproduktion, Zeitschriften, Videos und viele andere.
Die ersten drei Fernsehstationen entstanden 1950/51 und fusionierten
1955 zu Telesistema Mexicano, dem Vorläufer Televisas. Schon 1952
wurden die erfolgreichen Radionovelas auf den Bildschirm gebracht. Wie
ihre Vorläufer (sowie deren US-amerikanisches Vorbild, die
Radio-Soap-Operas) lag den Fernseh-Geschichten die Idee zugrunde,
Werbespots eingebettet in ansprechenden Geschichten auszustrahlen. Die
Erzählungen wurden von Anfang an durch Werbeblöcke unterbrochen,
täglich ausgestrahlt und mit einem offenen Spannungsende - dem
Cliffhanger - versehen. Die ersten Soap-Opera-ProduzentInnen waren
sowohl in den USA als auch in Lateinamerika Waschmittelfirmen, wie
z.B. Colgate Palmolive und Procter and Gamble. Sie schufen zentrale
Soap-Opera- bzw. Radionovela-Abteilungen in New York und La Habana und
verbreiteten die Geschichten auf dem ganzen Kontinent. Sie engagierten
und qualifizierten das kreative Personal (AutorInnen, Regisseure; vgl.
Trejo 1988: 92) und bezahlten die Radio- und Fernsehanstalten für die
zur Verfügung gestellte Sendezeit sowie für technische Ausstattung und
technisches Personal. Die zunächst in Kuba und dann auch in Mexiko
geschriebenen Drehbücher wurden in den anderen Ländern Lateinamerikas
sowohl als Radionovela wie auch später als Telenovela umgesetzt. Für
die lateinamerikanischen Geschichten wurde das US-Format mit in
Iberoamerika populären Erzählungen vermischt. Die
Fernseh-Geschichten wurden in den ersten Jahren einmal pro Woche mit
fünfzehn-, dreißig- oder sechzigminütiger Dauer und mit Fortsetzungen
gezeigt. Die Themen und Handlungen der Radionovela wurden vor der
Kamera in Szene gesetzt. Da es noch kein Videotape gab, wurden die
Novelas wie ein Theaterstück aufgeführt. Die aus diesem Grunde "Teleteatro"
genannten Sendungen wurden erst kurz vor der Ausstrahlung entworfen,
was eine recht provisorische Inszenierung zur Folge hatte:
"Das Bühnenbild wurde mit Kreide gemalt. ... Wir bekamen einen Bart
angeklebt und mussten einmal durchs Bild gehen." (Techniker Televisas)
In Anlehnung an die Technik des Theaters wurde mit Souffleusen
gearbeitet. Dieses Prinzip hat man in Mexiko bis heute beibehalten. Es
ist der Schlüssel für die große Schnelligkeit der Produktion, denn im
Laufe der fortgeschrittenen Technik wurden die "Apuntadores" (die
elektronischen Souffleusen) eingeführt: die SchauspielerInnen bekommen
ein kleines Hörgerät ins Ohr, von dem ein Kabel unter dem Haaransatz
und dann auf dem Rücken bis zu einer Batterie führt. Über dieses Gerät
sagt der Souffleur, der in der Regiekabine sitzt, alle Texte und
Bewegungen vor. Die SchauspielerInnen lernen keine Texte mehr
auswendig, sondern bekommen sie während der Aufnahme direkt ins Ohr
gesagt. Viele DarstellerInnen hören in diesem Moment das erste Mal
ihren Text und kennen oft auch die Inhalte der jeweils zu spielenden
Szenen nicht. Zwischen den Szenen gibt ihnen der Regisseur über die "Apuntadores"
Anweisungen. Auf der anderen Seite des Ohres ist das Mikrophon
angebracht, was dazu führt, dass zeitraubende Probleme mit der
Tonaufnahme entfallen. Teleteatros wurden in den fünfziger
Jahren bis zu viermal pro Woche gesendet, hatten dann aber nur wenige
Folgen. Erst die Einführung des Videotapes 1958 ermöglichte die
tägliche, serielle Ausstrahlung von Erzählungen im größeren Stil. Von
da an wurden die Geschichten "Telenovelas" genannt. Wenige Zeit später
- Anfang der sechziger Jahre - beendete das mexikanische
Fernseh-Unternehmen seine Praxis, Sendezeit an US-amerikanische Firmen
zu verkaufen und übernahm die Produktion selbst. Von da an schnellte
die Anzahl der gesendeten Telenovelas sprunghaft in die Höhe. Die
Ausstrahlung wurde auf Kanal 2 konzentriert und Telesistema gab ihm
das Image des "Kanals für die ganze Familie", und meinte damit: den
Kanal, den alle sehen. Telenovelas wurden zum beliebtesten
Fernsehprogramm und nahmen einen großen Teil von Kanal 2 ein, dem sie
maßgeblich dazu verhalfen, zum meist gesehenen Fernsehkanal Mexikos zu
werden. Zeitgleich mit der Übernahme von Telenovela-Produktion und
-Ausstrahlung gründete Telesistema eine Exportfirma (1961), um die
Serien auch außerhalb des Landes vermarkten zu können. Mit
diesen Veränderungen Anfang der sechziger Jahre wandelte sich der
Charakter der Telenovela: die anfängliche Werbesendung - eine
Geschichte erzählen, um Produkte ansprechend zu "verpacken" - wurde zu
einem eigenem Produkt. Mit der Möglichkeit der Aufzeichnung mittels
Video-Tape seit Ende der fünfziger Jahre entwickelte sich aus den
mündlichen und schriftlichen Erzählungen, die theaterähnlich in Szene
gesetzt wurden, ein eigenes Serienformat. Telesistema
professionalisierte nun die Herstellung der Telenovelas. Das
Unternehmen schaffte einen festen personellen Stamm und stellte 1962
die bis in die neunziger Jahre tätigen Produzenten Ernesto Alonso und
Valentin Pimstein ein. Erfahrene Regisseure lehnten die Inszenierung
stärker an die Filmästhetik an. Als Vorbild diente das "Cine de oro",
das mexikanische Kino der erfolgreichen Filmära der dreißiger,
vierziger und fünfziger Jahre. Melodramatische Aufladungen wurden
durch Naheinstellungen und Close Ups der Gesichter herbeigeführt, die
schließlich als Charakteristikum für (mexikanische) Telenovelas
galten. Publikumserfolge der großen Kinoära, wie zum Beispiel "Ustedes,
los ricos, nosotros, los pobres" mit Pedro Infante, wurden entweder
direkt als Telenovelas produziert, oder ihre Inhalte wurden indirekt
übernommen. "Du siehst die Filme der vierziger, Anfang der
fünfziger Jahre, und es sind die gleichen Konzepte, die in der
aktuellen Telenovela benutzt werden." (Televisa-MitarbeiterIn)
Die Stars des "Cine de oro" hatten bleibenden Eindruck beim Publikum
hinterlassen, so dass die Telenovela-ProduzentInnen versuchten, von
dieser Publikumsbegeisterung zu profitieren. Deshalb verpflichteten
sie einige der Filmstars für die Telenovelas und kopierten andere.
"Die Heldin, obwohl sie aus der ländlichen Bevölkerung stammt, ist
ein Typ wie im Cine mexicano, wie María Felix, Dolores del Rio, diese
Schönheiten." (Televisa-MitarbeiterIn) Durch die
Etablierung der Telenovela als wichtigster Bestandteil der
Produktpalette Telesistemas entwickelte sich zwar ein eigener Stil in
Bezug auf Regie und Produktionsorganisation und die Serien wurden
täglich erzählt, doch konnten sie noch nicht über einen längeren
Zeitraum ausgedehnt werden. Anfang der sechziger Jahre endete über die
Hälfte aller Geschichten nach einer Woche. Nur 18 von insgesamt 58
Telenovelas hatten eine Länge von 30 bis 60 Kapiteln. Der Grund dafür
liegt auf der Hand: das Medium Radio erlaubte von Anfang an,
Geschichten über einen langen Zeitraum täglich zu erzählen. Das Medium
Fernsehen dagegen braucht hoch entwickelte Technik und Organisation,
um Erzählungen in diesem Stil zu inszenieren. Das musste sich erst im
Laufe der Jahre entwickeln. Die Herstellung von kurzen Geschichten war
daher zunächst handhabbarer. Ziel war aber scheinbar ein ähnliches
Format wie das der Radio-Sopa Opera bzw. -novela mit langer
Erzähldauer. Die technischen Möglichkeiten erlaubten dies in den
siebziger Jahren. Die Anzahl der Telenovelas mit einer sehr hohen
Kapitelzahl (d.h. über 160 Folgen) war im Zeitraum von 1972 bis 1976
sehr viel größer als in anderen Jahren. Handlungen mit einer
Kapitelanzahl von 300 waren zu dieser Zeit die Regel. Sie entstanden
entweder durch Öffnen der Drehbücher, wenn die Telenovelas gut
anliefen, oder durch von Anfang an offene Handlungsentwürfe. Zu diesem
Zeitpunkt glich das mexikanische Telenovela-Format mit den offenen
Geschichten stark dem brasilianischen. In den achtziger Jahren ging
die Produktion der sehr langen Handlungen zurück, denn es stellte sich
heraus, dass die Publikumsbeteiligung bei Verlängerungen der
Geschichten abfiel. Bis heute dauern die mexikanischen Telenovelas in
der Regel zwischen 140 und 200 Kapiteln. Mit dieser Entwicklung
ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zum US-amerikanischen Vorbild
Soap Opera. Diese enthält mehrere gleichberechtigte Handlungsstränge,
die auf unbegrenzte Zeit wach gehalten werden. Damit das Publikum
darin nicht die Übersicht verliert, werden immer nur drei
Handlungsfäden parallel erzählt (Drei-Strang). Weil für die
"Lateinamerikanisierung" der Serien von Anfang an ganze - vorher schon
populäre - Geschichten auf das Serienformat gebracht wurden, weicht
die mexikanische Telenovela von dem auf Unendlichkeit angelegten
Handlungsentwurf ab und hat die ZuschauerInnen daran gewöhnt, ein
Happy End zu erwarten. Sie hat eine auf wenige Monate begrenzte
Erzählzeit und eine Haupthandlung, mit der fast alle Nebenhandlungen
verknüpft sind. Dadurch wird es möglich, eine Vielzahl von
Handlungssträngen gleichzeitig zu erzählen, ohne das Publikum zu
verwirren. Von der brasilianischen unterscheidet sich die mexikanische
Telenovela zusätzlich dadurch, dass sie in der Regel vor
Ausstrahlungsbeginn fertig gedreht ist und damit nicht auf die für
Telenovelas so oft hervorgehobene "Durchlässigkeit zur Aktualität" (Martín
Barbero u.a. 1992: 51; Klagsbrunn 1987) zurückgreift.
Telesistema Mexicano blieb auf dem Gebiet der Telenovela-Produktion in
Mexiko nahezu konkurrenzlos. Das Unternehmen hatte im Aufbau seiner
Fernsehstruktur einen jahrelangen Vorsprung vor staatlicher und
kommerzieller Konkurrenz. Mit dem stärksten kommerziellen Gegenspieler
- Televisión Independiente de México (TIM) - fusionierte es 1973, und
diese beiden gründeten das Konsortium Televisa. Tonangebend waren
Romulo O'Farril, Miguel Alemán Velasco und Emilio Azcárraga Milmo. Die
beiden erstgenannten schieden 1991 aus dem Unternehmen aus, so dass
die Familie Azcárraga nun die Mehrheit der Unternehmensanteile in der
Hand hält. Mit dem großen Vorsprung konnte Televisa - gerade im
kapitalintensiven Fernseh-Bereich - stärker werdende Fernsehstationen
durch Wettbewerbsvorteile, durch Fusion oder durch ökonomische
Vernichtung mit Programmpiraterie, ArtistInnenboykott und Druck über
Werbekunden ausschalten. Die mexikanischen Regierungen begünstigten
das Medienkonglomerat und erhielten im Gegenzug dafür in Televisas
Fernsehprogrammen Legitimationen für die Regierungspolitik und Hilfe
im Wahlkampf für die Regierungspartei PRI (vgl. z.B. Bohmann 1986;
Trejo Delarbre 1985; 1988). Neben dem mächtigen Fernseh-Giganten haben
die kommerziellen Konkurrenten TV Azteca (entstanden aus dem Verkauf
zweier staatlicher Sender), der Kabelsender Multivisión und die
kleinen Lokalsender keine Chancen, die Dominanz Televisas im
Fernsehbereich zu brechen, und noch weniger können die beiden übrig
gebliebenen staatlichen Fernsehanstalten ausrichten. Dank
seiner Position kann Televisa mit minimalem Aufwand und qualitativ
schlechten Produkten die Werbepreise bestimmen, die zulässige
Werbezeit überschreiten und die Arbeit seiner MitarbeiterInnen optimal
nutzen. Inhaltliche Spielräume sind sehr eng gesteckt, so dass wenig
kreative Kraft in die Herstellung der Programme gesteckt wurde. Für
die Produktion der Telenovela - dem wichtigsten Fernseh-Programm -
bedeutet dies, dass die Inhalte kaum verändert wurden und die
Inszenierung lange Zeit mit der in den sechziger Jahren entwickelten
Ästhetik und in sehr schlichter Machart bestehen blieb. Erst das seit
den achtziger Jahren stärker umworbene Publikum in den USA und die
wachsende internationale Konkurrenz - vor allem die des
brasilianischen Unternehmens Globo - veranlasste die mexikanischen
Fernseh-Produzenten Ende der achtziger Jahre dazu, große Teile der
Produktionsverfahren der US-amerikanischen und des größten
brasilianischen Serienproduzenten zu kopieren. Televisa modernisierte
die Fernseherzählungen filmtechnisch, richtete sie auf bestimmte
Publikumsgruppen aus und differenzierte und spezialisierte die
einzelnen Produktionsschritte. D.h., die Gestaltung der Telenovela
liegt immer weniger in den Händen einer oder weniger Personen (AutorIn,
RegisseurIn, ProduzentIn), sondern teilt sich in viele kleine
Einzelschritte auf. Vorher war die Serienherstellung in Mexiko sehr
stark von den jeweiligen ProduzentInnen geprägt gewesen. Im
Unterschied zu Televisa hatte Globo zur Zeit seiner Entstehung schon
starke Konkurrenz im eigenen Land, so dass von Anfang an die
Notwendigkeit bestand, viel innovative Kraft in die Fernseh-Produktion
zu investieren. Das marktorientierte Management Globos mit einer
gewissen Offenheit für Neuerungen in der Gestaltung der Telenovelas
traf sich damit, dass viele Kulturschaffende während der
Militärdiktatur nach neuen Betätigungsfeldern suchen mussten und so zu
Globo kamen. (Mattelart, A., M. 1987: 47). Aufgrund dieser Bedingungen
wurden schon seit den siebziger Jahren die filmtechnische Gestaltung
der Telenovelas modernisiert und professionalisiert und die Inhalte an
die brasilianische Alltagsrealität angelehnt. Im Gegensatz dazu
wurden Erneuerungen in Mexiko zum einen durch die rigide
Unternehmensführung bei Televisa verhindert. Zum anderen kamen erst
Ende der achtziger Jahre einige wenige qualifizierte Kulturschaffende
zu Televisa, als die wirtschaftlichen Probleme im Land ihre
Arbeitsmöglichkeiten immer knapper werden ließen. Für das Fernbleiben
kreativer Personen ist neben der Abschreckung durch die rigide
Unternehmensführung aber auch der schlechte Ruf von Televisas
Fernsehprogrammen verantwortlich. Unter qualifizierten
Kulturschaffenden gilt es als peinlich, für
das Unternehmen zu arbeiten. Einen schwer durchschaubaren, aber
nicht unerheblichen Einfluss auf die Entwicklung des
Telenovela-Profils hatten unterschiedliche Einstellungen der drei
Firmenchefs. So gab es einige Produktionen, bei denen inhaltliche
Experimente möglich waren und welche Mittel für aufwendigere
Inszenierungen zur Verfügung hatten, als der Präsident Televisas,
Azcárraga Milmo, Mitte der achtziger Jahre für etwas mehr als ein Jahr
das Land verließ und sein Kompagnon Alemán die Unternehmensführung
innehatte. Nach Azcárragas Rückkehr wurden die Mittel wieder gekürzt.
Übrig blieb eine filmästhetische und sprachliche Modernisierung, die
sich als "moderne Kulisse" für die gleichen inhaltlichen Grundmuster
charakterisieren lässt. Mit Blick auf die Einschaltquoten wurde auch
der seit Mitte der achtziger Jahre eingeführte stärkere Bezug zu
nationalen Eigenheiten, zu nationaler Volkskultur und zur
Lebenswirklichkeit der breiten Bevölkerungsschichten beibehalten bzw.
ausgebaut. Phänomene der modernen mexikanischen Kultur werden
allerdings nur in Telenovelas aufgenommen, wenn sie sich in das von
Televisa verbreitete, konservative Weltbild integrieren lassen.
Die Ausdifferenzierung des Produktionsprozesses in den achtziger
Jahren mit dem Ziel einer technischen und filmästhetischen Annäherung
an einen internationalen Standard führte dazu, dass die Details
sorgfältiger ausgearbeitet werden konnten. Die größte Sorgfalt wurde
dabei auf die Präsentation von Kulisse und DarstellerInnen gelegt, um
sie auf diese Weise eng mit der Warenästhetik verbinden zu können. Man
passte die Lebensstile der Figuren der Werbeästhetik an und stellte
diese Neuerungen als Qualitätsverbesserung dar. Damit wurde die
Telenovela, die einst als "Verpackung" für Werbung entstanden und dann
zu einem eigenständigen Produkt entwickelt worden war, noch "schön
verpackt". Die mexikanische Unternehmensleitung entwickelte
zwar einen eigenen Seriencharakter, behielt dabei jedoch immer den im
Seriengeschäft weltweit führenden Nachbarn USA im Blick. Seit den
achtziger Jahren galt ihr größtes Interesse dem spanischsprachigen
Publikum in den USA. Was die Entwicklung des Telenovela-Formates
betrifft, lässt sich das am deutlichsten an deren Sendezeiten ablesen.
Mit zeitlicher Verschiebung zum US-amerikanischen Vorbild betrug die
Länge einer Folge am Anfang meist 15 Minuten und wurde bald auf 30
erhöht. Anfang der neunziger Jahre machten die einstündigen Sendungen
die Mehrheit aller Telenovelas aus. Telenovelas nahmen seit den
sechziger Jahren täglich drei bis vier Stunden Programmzeit auf Kanal
2 in Anspruch. Die Sendeplätze änderten sich im Laufe der Jahre. Die
Hauptsendezeit lag z.B. 1967 zwischen 17 und 20 Uhr. Daneben gab es
morgens von 9:30 Uhr bis 10.00 Uhr Novelas, womit sich die Gruppe der
Hausfrauen, die um diese Uhrzeit zu Hause ist, als Zielpublikum
ausmachen lässt. Seit den siebziger Jahren teilen sich die Geschichten
in die vom Spätnachmittag bis zum frühen Abend für Hausfrauen, Kinder
und Jugendliche gesendeten und in die Spätabendnovelas für das
erwachsene und werktätige Publikum. Ende der achtziger Jahre
fand eine inhaltliche Diversifizierung statt, um Publikumsgruppen
anzusprechen, die bis dahin nicht zu den Telenovela-Fans zählten.
Während die Telenovelas am Nachmittag im alten Stil verblieben und
durch rührselige Geschichten ergänzt wurden, in denen Kinder im
Mittelpunkt der melodramatischen Verwicklungen stehen, wurden die
Abendnovelas filmtechnisch anspruchsvoller gestaltet und inhaltlich
diversifiziert. Die Geschichten um 19 Uhr sprechen ein junges Publikum
an, das in Mexiko den größten Teil der Bevölkerung ausmachen. Es wird
mit ihm entsprechenden Themen versorgt: die Störung der
Eltern-Kind-Beziehung wird nicht mehr so stark durch das Verlorengehen
der Eltern thematisiert, sondern durch Probleme, die aufgrund des
Zusammenlebens verschiedener Generationen entstehen, Konflikte in
Liebes- und Freundschaftsbeziehungen werden auf die Lebensrealität der
Jugendlichen zugeschnitten und ihre Vorbereitung auf das Berufsleben
wird behandelt (z.B. Traum von der Karriere als Sport- oder
Musikstar). Jugendspezifische Lebensstile treten in den Vordergrund: "chavos
banda" - Jugendliche aus den Elendsvierteln Mexiko-Stadts, die wie die
Punks in Deutschland als jugendliche Subkultur zu Bekanntheit kamen -
waren als Figuren Ende der achziger Jahre fast ein "muss" in jeder
erfolgreichen Jugend-Novela. In Anlehnung an Musik- und Tanzfilme (wie
"Dirty Dancing") wird Rock- und Popmusik integriert. Diese Variationen
bleiben jedoch in der Regel Nebenkonflikte innerhalb der herkömmlichen
melodramatischen Verwicklungen. Die Serien des
Spätabendprogramms wurden - in Anlehnung an die Erfolge der
US-amerikanischen Prime-time-shows (wie z.B. Dallas) - stärker auf ein
männliches Publikum ausgerichtet. Die Telenovela-AutorInnen beziehen
Aktionsmomente und Darstellungen sexueller Handlungen (Sex and Crime)
in die Geschichten ein und schaffen männliche Identifikationsfiguren.
Damit ändert sich der Charakter der Serien. Zu den Beziehungsstörungen
des "Frauen-Genres" kommt das Verbrechen als Störung der sozialen
Regeln hinzu. Während das Beziehungsdrama psychisches (Mit-) Leid und
moralische Empörung hervorruft, weckt das "Regel-Drama" eine Spannung
durch sensationelle Normverstöße und damit zusammenhängende moralische
und psychische Störungen. Die sensationalistischen und
sexistischen Handlungselemente werden als Liberalisierung der Inhalte
dargestellt. Doch zusammen mit der Beibehaltung der inhaltlichen
Grundmuster führt diese Mischung letztendlich dazu, dass sich
konservative Werte und Normen, liberale Verhaltensweisen und
sexistisches Gebaren als Brüche und Widersprüchlichkeiten in den
Geschichten niederschlagen. Mexikanische ZuschauerInnen
kritisieren die Serien häufig wegen der Darstellung von - in ihren
Augen - zu großer moralischer Freizügigkeit. Andere bemängeln die
konservative Grundhaltung in den Handlungen. Einig sind sich viele
ZuschauerInnen in ihrer Ablehnung von unlogischen
Handlungskonstruktionen und von den sehr ähnelnden Handlungen.
Trotzdem sehen sie die Serien immer wieder. Und kaum ist eine
Geschichte in gang, beginnt das Kritisieren daran von Neuem. Diese
ambivalente Haltung des Publikums ist nicht allein mit dem Mangel an
(erschwinglichen) Alternativen für Entspannung und Unterhaltung oder
mit der Gewöhnung an den jahrelangen Serien-Konsum zu erklären, auch
wenn diese Gründe sicherlich eine nicht unwichtige Rolle spielen:
Durch die Einbettung der Telenovelas in den Alltag über Jahre hinweg
werden diese Teil des eigenen Lebenslaufs. In der Erinnerung können
ZuschauerInnen wichtige persönliche Erlebnisse mit dem Sehen
bestimmter Telenovelas verbinden. Die Erkenntnis, dass ein generelles
Erzählmuster stärker erinnert wird, als einzelne Geschichten oder
Charaktere, lässt darauf schließen, dass Telenovela-Sehen wie andere
Alltagsroutinen zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, die
nicht mehr wegzudenken ist. "Sie kommen, gucken eine Weile
und gehen wieder. Aber es ist wie etwas von der Familie, dass
Telenovela gesehen wird. Alle Tage. Alle sehen wir Telenovelas. ...
Und manchmal kommst du, und der Fernseher ist aus. ... Als wärst du
nicht zu Hause." (Interview) Außer dem Mangel an
Alternativen und der Gewöhnung an Telenovelas als etwas nicht mehr aus
dem Leben Wezudenkendes üben die Serien trotz ihrer viel kritisierten
Mängel einen Reiz auf das Publikum aus, der unwiderstehlich scheint.
Dieser Faszinationskraft soll im folgenden nachgegangen werden, indem
sie aus der Tradition der Erzählstrukturen und der Perspektive des
Publikums erklärt wird. Dabei kann deutlich werden, dass sich die
wesentlichen Elemente der Telenovela schon lange vor Fernsehen und
Radio herausgebildet haben und dass die Serien traditionelle
Erzählstrukturen mit modernen vermischen. |
Alte Geschichten erzählen |
Bei Televisa werden äußerst selten
eigene Geschichten erfunden. Um keinen Misserfolg zu riskieren,
greifen die Telenovela-ProduzentInnen in der Regel auf schon
erfolgreiche Erzählungen zurück, wie ehemalige Radionovelas,
Kinofilme, Comic (Heft-) - Geschichten und europäische Feuilletons des
19. Jahrhunderts. Sie füllen sie mit Telenovela-üblichen Plots und
versehen sie mit aktuellen Bezügen und einigen "Erfolgsrezepten", die
meist aus Hinzufügung von sensationalistischen Elementen bestehen. Mit
den erfolgreichen Geschichten übernimmt Televisa nicht nur deren
Themen, sondern auch deren Strukturen. Dies betrifft vor allem die des
Feuilletons, der gerade während der Entstehung der Telenovelas sehr
häufig als Vorlage diente und maßgeblich für die
"Lateinamerikanisierung" der Soap Opera sorgte. Ein Grund für die
direkte Übernahme der Feuilleton-Erzählungen mag darin gelegen haben,
dass sie noch bis ins 20. Jahrhundert hinein in Lateinamerika sehr
populär waren und sich mit anderen, traditionellen Erzählformen
mischten. Für den Feuilleton-Roman seinerseits, der Mitte des 19.
Jahrhunderts in Europa entstand, griffen dessen AutorInnen auf
wesentliche Elemente des Melodramas zurück. Sie bedienten sich der
gleichen Bilder, Gefühle, Ideen sowie ganzer Geschichten und
übernahmen seine Erzählstrukturen (Schmidt 1986: 214 f). Das Melodrama
selbst entwickelte sich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aus
der Überlagerung, Kombination und Umwandlung vieler verschiedener,
meist volkstümlicher Erzähl- und Darstellungsformen. Im wesentlichen
wurde das Jahrmarkt- und Stegreifspiel mit dem Drama vermischt. Das
vorwiegend kommerzielle Interesse der TheaterproduzentInnen an
möglichst billigen und erfolgreichen Aufführungen für das zu Beginn
des 19. Jahrhunderts entstehende Massenpublikum führte dazu, dass
bereits erfolgreiche Werke von bekannten AutorInnen adaptiert und -
wie bei den Straßenspektakeln - mit vielen Showelementen versehen
wurden (Schmidt 1986: 15; 90). Die Orientierung am Massenkonsum mit
leicht erfassbaren und gefälligen Erzähl- und Darstellungsformen gibt
es also nicht erst seit dem weltweiten Export der Soap Operas und
Telenovelas im Zeitalter der elektronischen Medien. Neben der
direkten Beerbung durch Feuilleton und Melodrama gehen indirekt
weitere Erzählformen in die Telenovela ein. Sehr deutlich ist dies
beim Märchen. Neben dem "Aschenputtel-Motiv" (die Liebe zwischen armem
Mädchen und reichem Jüngling wird durch Intrigen bedroht) ist es vor
allem das des "Schneewittchens" (böse Stief- oder Schwiegermutter
schafft gutem Mädchen Leiden), das sehr häufig für Telenovelas benutzt
wird. Die Heldinnen, die am Ende ihre reiche Mutter wieder finden,
sind vergleichbar mit Prinzessinnen, die bis zum Schluss nicht wissen,
dass sie es sind. Macht und Reichtum der Bösen sind oft so groß, dass
sie an MärchenkönigInnen erinnern, deren Häuser (Schlösser) allerdings
nach der neuesten Mode eingerichtet sind. Die Erzählstrukturen der
Märchen weisen Charakteristika auf, die sich in ähnlicher Form in
Melodrama, Feuilleton und Telenovela wieder finden. Je nach
herrschendem Weltverständnis und Rezeptionsmöglichkeiten und
-verhalten können sie an die neuen Bedingungen angepaßt sein. |
Alltags-Konsum |
Alle hier erwähnten Erzählformen
ermöglichen eine Rezeption, die keine Anstrengung erfordert. Die
Formelhaftigkeit der Märchen (drei Herausforderungen, drei Brüder
etc.) half den ZuhörerInnen, die mündliche Erzählung zu behalten. Der
europäische Feuilleton des 19. Jahrhunderts war billig zu kaufen und
leicht lesbar (einfache Schrift und Sprache sowie wöchentliche kurze
Episoden; Martin Barbero 1987b: 149 ff). Die Radio- und
Fernseherzählungen in Lateinamerika werden kostenlos ausgestrahlt und
enthalten so viele Redundanzen, dass sie ohne Mühe "gelesen" werden
können.
Der Fortgang der Handlung ist in allen Fällen streng linear. In den
Erzählungen gibt es kein In- und Miteinander, sondern nur Neben- oder
Nacheinander. In der Telenovela darf sie höchstens von Flash-backs
unterbrochen werden. Im Märchen werden die Einzelsituationen statt
durch eine übergreifende Fabel durch ein "und dann..."
zusammengehalten. Im Melodrama verbindet sie der Dialog zwischen den
Figuren. Dadurch wird der Eindruck von Vielfalt und Fülle innerhalb
eines überschaubaren Gesamtzusammenhanges erzeugt, der nicht
reflektierend erschlossen werden muss. Die relativ schematische
Ordnung der populären Erzählungen wird durch klar ausgeprägte
Erzähllinien ergänzt, die schlagartig die Handlung verändern. Abrupte
Stimmungswechsel zwischen den Szenen erwecken den Eindruck von
Bewegung (vgl. Schmidt 1986: 204). Seit dem Fortsetzungsroman des 19.
Jahrhunderts unterbricht der Cliffhanger diese Erzählweise zusätzlich.
Die Übertragung der Geschichten auf elektronische Medien führte dazu,
dass die Fragmentierung durch Werbeeinschübe verstärkt wurde.
Die Wechsel sind eingebettet in Kontinuität und Dauer der Erzählung.
Die Figuren werden dadurch für das Publikum zu guten Bekannten. Die
populäre Erzählung lebt von der Verfügbarkeit über Zeit. Sie findet um
des Erzählens willen statt und schließt eine Geschichte an die andere
an (Benjamin 1980: 399 f). Die Telenovela-Erzählung okkupiert aufgrund
des hinter ihr stehenden kommerziellen Interesses so viel
Publikumszeit wie möglich. Die Geschichten werden ausgebreitet und
verlängert, wenn das Publikum Gefallen an ihnen findet.
Die Fragmentierung der Telenovela-Handlung erlaubt, ja nötigt das
Publikum geradezu, während der vielen Werbeunterbrechungen andere
Dinge im Haus zu tun und trotzdem unterhalten zu werden. Gerade in
Mexiko, wo Menschen immer weniger Pläne machen können, je weniger
Macht sie haben, passt die Telenovela gut in die
Gegenwartsorientierung des Publikums. Sie ist immer zuverlässig
präsent, unmittelbar zugänglich und erlaubt eine passive, einfache
Aufnahme. Darin eingebettet erleben die ZuschauerInnen Überraschungen
und Abwechslung und damit Bewegung im sonst bewegungsarmen Alltag.
Auch zur Arbeit der Hausfrau und Mutter passen die vielen Wechsel sehr
gut, denn Hausarbeit ist ohnehin fragmentiert (für alle(s) ein Auge
haben), wird andererseits durch die Telenovela aber noch zerstreuter.
Die populäre Erzählung ist übersichtlich, eindeutig und immer im Haus
präsent. Der Wechsel zwischen Spannung und Konfliktentladung
entspricht der weiblichen Prägung, in der Sorge um die
Familienmitglieder abrupt von einer Gefühlslage in die andere zu
wechseln. Ferner erlaubt die Telenovela der Frau hin und wieder eine
Trennung der sonst nicht trennbaren Muße von ihrer Arbeit, indem die
Zuschauerin die Sendezeit der Lieblingsnovela als "ihre Zeit"
beanspruchen kann. Das kommerzielle Interesse, Zeit des
Publikums so lange wie möglich zu beanspruchen, trifft sich mit den
Wünschen der ZuschauerInnen, die möchten, dass ihre Zeit möglichst
angenehm - unterhaltsam - besetzt wird. Die Telenovela-Erzählung lehnt
sich an das langsame Verstreichen der Alltagszeit an und durchbricht
sie gleichzeitig mit Elementen, die aus Routine und Monotonie
herausragen. |
Plausible Wunder |
Die Handlung wird in allen hier
behandelten Erzählformen aus einer Ruhesituation heraus durch einen
Mangel in Gang gebracht, der eine Aufgabe bzw. einen Kampf auslöst,
dem Glück folgt. Die behandelte Krise erzeugt eine Spannung beim
Publikum, die auf dem Wunsch basiert, wissen zu wollen, dass und wie
die Krise aufgelöst wird. Die Telenovela folgt - auf der Basis
der melodramatischen Grundstruktur - immer demselben Handlungsschema:
in eine anfängliche Ordnung tritt das Böse und versetzt die Guten in
einen Zustand der Ohnmacht. HelferInnen der Heldin durchschauen das
Spiel, doch die SchurkIn ist immer einen Schritt voraus. Schließlich
hilft das Schicksal und bringt das Böse zu Fall. Die Spannung beruht
auf der Erwartung einer Auflösung des dargestellten Konfliktes.
Zusätzlich behindert wird die Konfliktlösung dadurch, dass einige
Figuren bestimmte "Geheimnisse" nicht kennen und entweder nach und
nach oder ganz am Ende entdecken. Beim Märchen handelt es sich meist
um ein Wissen aus einer "anderen Welt". Seit dem Melodrama verbirgt
eine Figur Wissen um seine Person, was zu Kommunikationsstörungen
führt. In der Telenovela findet sich die Einteilung der
Handlung in drei Akte. Nachdem die Hauptfiguren knapp vorgestellt
werden, beginnt die Handlung so früh wie möglich mit der Entwicklung
eines Konfliktes. Dieser Konflikt gipfelt zwischen dem dreißigsten und
dem fünfzigsten Kapitel in einer Krise. Die krisenhafte Situation, in
der die Guten unter den von den Bösen verursachten Widrigkeiten leiden
und versuchen, sich dagegen zu behaupten, wird bei der Telenovela so
lange wie möglich ausgedehnt. Hier lassen sich viele Erzählschleifen
einbauen, die durch die Hauptfiguren zusammengehalten werden. Etwa
dreißig Kapitel vor Ende der Telenovela wendet sich das Schicksal
zugunsten der Guten, die in den letzten fünf Kapiteln alle ihre Sorgen
gelöst sehen. Hierin besteht ein wesentlicher Unterschied zur nie
(glücklich) endenden US-amerikanischen Soap Opera. Eine
schlechte Dramaturgie (fehlende Spannung und Inkohärenzen in der
Handlung) und schlechte Darstellung führen zur Verärgerung des
Publikums, weil sie eine intensive Anteilnahme verhindern. Die
Geschichten werden in Mexiko oft so weit in die Länge gezogen, dass
der Spannungsbogen nicht mehr ausreicht und die ZuschauerInnen sich
langweilen. Wenn sie dennoch weitersehen, liegt es zum einen daran,
dass die Cliffhanger die Neugier so stark wecken, dass die Fans trotz
ihrer Verärgerung über die fehlende Spannung immer wieder einschalten.
Nicht wenige ZuschauerInnen ärgern sich über sich selbst, weil sie
sich auf diese Weise von den offenen Enden "versklavt" fühlen. Damit
ist das Ziel dieser Sendeform, eine hohe Bindung an das Produkt durch
Spannungsbogen und Cliffhanger zu erlangen, erreicht. Der tägliche
Abbruch der von der Telenovela hervorgerufenen Bewegung ist für viele
schwerer zu ertragen, als die Langeweile, die auftritt, wenn der
Handlungsfaden am nächsten Tag wieder aufgenommen und nur mit mäßiger
Spannung und Kohärenz bis zum nächsten Cliffhanger weitergeführt wird.
Deshalb können sich die ZuschauerInnen über schlechte Telenovelas
ärgern und trotzdem danach trachten, keine Folge zu versäumen.
Um die nach Auflösung des Cliffhangers wieder eintretende Langeweile
zu vertreiben, verrichten die ZuschauerInnen nebenbei andere
Tätigkeiten oder (bzw. und) suchen ihr Vergnügen darin, sich über die
Erzählung zu erheben und sie zu kritisieren oder sich darüber lustig
zu machen. "Immer machte ich eine Handarbeit, weil ich
ungeduldig wurde bei der ganzen Werbung. Wenn es mich interessierte,
schaute ich aufmerksamer hin." (Zuschauerin) "Wir sehen
sie alle, aber irgendwann machen sie uns sauer, weil es immer die
gleiche Handlung ist." - "Sie heiraten und bringen sich um" - Und fünf
Männer streiten um dieselbe Frau." (ZuschauerInnen) "Ich
sehe 'Teresa`, um zu lagen und zu sagen: So ein Quatsch. ... als
Zeitverteib, sehr leicht, weil du nicht da sitzen und sie schauen
musst." - "Es gefällt uns, uns über die Personen und die Machart
lustig zu machen, sie zu kritisieren, zu diskutieren." (ZuschauerInnen)
Anteilnahme, Spannung, Langeweile und Spott finden sich nicht selten
gleichzeitig. Das nicht-tragische Ende der melodramatischen
Telenovela beinhaltet ebenso wie beim Märchen eine Form der
Unsterblichkeit, da der abschließende, glückliche Zustand über die
Serie hinaus erhalten bleibt. Es wird im Märchen durch eine "wunder -
bare" Fügung herbeigeführt, die als Selbstverständlichkeit erscheint.
Das Wunderbare taucht in einer Art säkularisierter Form in den
modernen populären Erzählungen wieder auf: als Sensation, die Staunen
über Außergewöhnliches hervorruft. Es verliert allerdings nie die
potentielle Überprüfbarkeit. Kurz vor der Unmöglichkeit bleibt sie
immer im Bereich des Möglichen, Realistischen. Nicht mehr Zwerge und
Feen, sondern gute FreundInnen wirken im Hintergrund, und nicht ein
Zaubertrank, sondern das - zufällige oder schicksalhafte, aber
letztlich plausible - Zusammentreffen verschiedener Personen und
Umstände hilft den HeldInnen, das Böse zu überwältigen und ihr Glück
zu finden. Die modernen Ansprüche auf Nachprüfbarkeit und
Nachvollziehbarkeit machen aus dem Staunen über das Wunderbare der
traditionellen Volkserzählung einen neuen Reiz: die moderne Erzählung
wird mit der direkt oder indirekt erfahrenen Realität verglichen und
an ihr gemessen. Die ZuschauerInnen empfinden einen Genuss daran,
kompetente BeurteilerInnen darüber zu sein, ob die Telenovela die
Realität "richtig" oder "falsch" abbildet. Damit hat sich die
Konsequenz aus dem modernen Weltverständnis, demzufolge das Subjekt in
der Lage ist, die Welt an seinen Maßstäben (objektiv) messen zu
können, "popularisiert". Der populäre Maßstab ist der Alltag und die
Analogie zu dem selbst Gewussten. Das Publikum möchte allgemeinste
Bilder spontan und oberflächlich erkennen und beurteilen. Wenn
der Zufall die dramatische Handlung auflöst, bringt er Konstellationen
hervor, die gleichzeitig den Wünschen der ZuschauerInnen, "wie es in
der Welt zugehen soll", entsprechen (Schmidt 1986: 167). Zwar müssen
die Figuren eigene Anstrengungen für die Erlangung von Glück
unternehmen, doch hängt die Erfüllung letztendlich nicht von ihnen ab.
Damit ermöglicht die Erzählung das Staunen über Außeralltägliches und
den Traum von "Wundern", die Konflikte beseitigen, ohne dass man
selber die Verantwortung dafür hat. Diese Befriedigung der subjektiv
empfundenen Sehnsucht nach Ausgleich lässt sich als "Ethik des
Geschehens" bezeichnen. Sie antwortet nicht auf die Frage "Was muss
ich tun?", sondern auf die Frage "Wie muss es in der Welt zugehen?".
Tragik wird damit verneint zugunsten einer eindeutigen moralischen
Position. Damit wird der tragische Gehalt, wie er z.B. in klassischen
Dramen zu finden ist, popularisiert und die Katharsis-Funktion
umgekehrt. Im Melodrama scheitern die Figuren nicht an höheren
Gesetzen oder eigenen Unzulänglichkeiten, wie im tragischen Konflikt,
sondern sie werden durch von außen an sie herangetragene Umstände oder
Bösartigkeiten in Not gebracht (Schmidt 1986: 108 ff). Tragik liegt im
Melodrama - wie im Märchen - nicht in einer inneren Gespaltenheit der
beispielhaften Figuren, sondern im Aufeinandertreffen von nach außen
verlagerten, klaren Gegensätzen von moralischen Einstellungen und
Gefühlen, wie Gut und Böse, Hass und Liebe, Opfer und Sieger etc. Die
Konflikte sind damit von den Individuen getrennt, das Mitleid des
Publikums wird distanzlos und provoziert keine Reflexion und somit
keine Katharsis im Sinne einer Affektbefreiung, sondern im Gegenteil:
es schafft eher eine emotionale Aufladung (vgl. Geiger/Haarmann 1978:
20 ff; Schmidt 1986: 98 ff). Tragik bezeichnet somit im Melodrama das
Gefangensein im unverschuldeten, von außen kommenden, schweren
Unglück, aus dem die Opfer nur mit Hilfe des Zufalls oder des
Schicksals wieder befreit werden können. Die Opfer und ihre
HelferInnen haben in der Telenovela lediglich die Aufgabe, dem
Schicksal "unter die Arme zu greifen". In der Unübersichtlichkeit der
modernen Welt sind solche eindeutigen Erklärungen für eigenes Leid
sehr attraktiv. Tragik ohne eigene Verantwortung, die moralisch
eindeutig zuzuordnenden Figuren und das Happy End sorgen für einen
überschaubaren, melodramatischen Rahmen. Überraschungen, unstabile
Situationen und Geheimnisse sowie Variationen bei Themen, Figuren und
Handlungsplots rufen eine Unordnung hervor, schaffen den Drang nach
Ordnung und machen das Publikum neugierig auf die Auflösung der
ungeordneten Verhältnisse und der Geheimnisse. Es bereitet ihm
Vergnügen, die Überraschungen vorherzusagen. Spannung entsteht an der
Frage, ob die eigenen Vermutungen und Voraussagen eintreffen, oder ob
die Handlung durch ganz andere Variationen zu einer überraschenden
Wendung gelangt. Dieser Kontrast zwischen Sicherheit und Neugier
verbürgt gleichzeitige Gefühle von Ruhe - alles ist überschaubar - und
Lebendigkeit - alles ist in Bewegung. Der Publikumswunsch nach
Sicherheit lässt sich gut mit dem Interesse Televisas verbinden, die
bestehenden Verhältnisse zu manifestieren. Die Befriedigung der
Neugier der ZuschauerInnen könnte im Prinzip darüber hinausweisen,
ohne das Sicherheitsbedürfnis zu vernachlässigen. Sie kann aber auch
dadurch stattfinden, dass die immer gleichen Konstellationen durch
geschickte dramaturgische Konstruktionen lediglich zu einem
semantischen Anschwellen gebracht werden, wie es in mexikanischen
Telenovelas die Regel ist. Auf diese Weise wird der Wissenshorizont
der ZuschauerInnen bewegt, aber nicht erweitert. Das entspricht den
Bedürfnissen einiger ZuschauerInnen. Andere vermissen das über den
eigenen Horizont Hinausweisende.
Mit der Popularisierung der Tragik ist in Volks- bzw.
Massenerzählungen in vielen Fällen ein sozialer Aufstieg verbunden:
der/die HeldIn wird nicht nur verfolgt bzw. bedroht, sondern
seine/ihre wahre Identität ist verhüllt. Die Rettung der Figur am
glücklichen Ende fällt zusammen mit der Aufdeckung der wahren
Identität. Über diese Konstruktion wird es möglich, dass arme Figuren
"über Nacht" reich werden. Der Unterschied zwischen dem traditionellen
Märchen und dem modernen Feuilleton besteht in der Art und Weise, in
der ein sozialer Aufstieg möglich wird: anstelle der "wunder - baren"
Verwandlungen und Gaben führen nun zufällige Begegnungen im
Großstadtdschungel (Arm heiratet Reich oder findet reiche Angehörige)
dazu, dass soziale Probleme gelöst werden. Damit wird die
Säkularisierung der wunderbaren Auflösungen mit den realen Erfahrungen
des modernen Massenpublikums verknüpft. In Europa breiteten sich
Melodrama und Feuilleton im 19. Jahrhundert aus, als große Massen in
die Städte strömten. Die Geschichten können mit ihren verwickelten
sozialen Netzen, in denen die Figuren miteinander verbunden sind,
Probleme der Urbanisierung aufgreifen. Das erklärt, warum die
europäischen Fortsetzungsgeschichten des 19. Jahrhunderts in
Lateinamerika im 20. Jahrhundert so erfolgreich werden konnten: sie
sprachen ähnliche gesellschaftliche Probleme an, die sich dort im Zuge
der "nachholenden Industrialisierung" etwa ein Jahrhundert später
ergaben. Urbanisierung und die damit verbundene Massenmigration
haben zur Folge, dass traditionelle, überschaubare soziale
Zusammenhänge aufgegeben werden. Die Menschen begegnen einander als
Fremde, die Unübersichtlichkeit der sozialen Beziehungen führt zu
normativer Unsicherheit und die Auflösung von sozialen Zusammenhängen
führt dazu, dass Beziehungen grundsätzlich instabiler werden.
Die mehrsträngige Erzählung mit dem komplexen, aber für das Publikum
überschaubaren sozialen Netz hebt Fremdheit auf zwei Ebenen auf: auf
der para-sozialen agieren die ZuschauerInnen mit den Figuren und
nehmen intensiv an ihrem Schicksal Anteil. Sie bekommen Anregungen für
die zweite, die soziale Ebene, auf der sie mit anderen über diese
Figuren und damit über Dinge zu reden, die sonst im Privaten verborgen
sind. Über die "Fremden" - das können auch die Nachbarn sein - lässt
sich so auf unverbindliche Weise etwas erfahren. Die Aufhebung
des Sich-Fremd-Fühlens ergibt sich in der para-sozialen Interaktion
dadurch, dass die tägliche Begegnung mit den Figuren diese zu guten
Bekannten macht. Zudem macht das Publikum die - wenn auch nur
virtuelle - Erfahrung, dass die Menschen mitten unter Fremden Bekannte
und Angehörige (zu ihnen Gehörende) wieder finden, die sie verloren
hatten. Die fremde Person entpuppt sich als eine, die zu mir gehört
und dadurch emotionale und soziale Sicherheit verleiht (und außerdem
noch sozialen Aufstieg bedeutet). Das Happy End - Menschen bleiben für
immer zusammen - hinterlässt das Gefühl von emotionaler Stabilität.
Normative Sicherheit kann die moderne populäre Erzählung stärken,
indem sie einen Blick in die "geheimen Normzentralen" der anderen
ermöglicht und Modelle sozialen Handelns zeigt, an denen sich das
Publikum abarbeiten kann. Außerdem können sich die ZuschauerInnen
aufgrund ihres Überblickes über die komplexen sozialen Netze als
kompetente BeurteilerInnen von Sozialbeziehungen fühlen und diese
Kompetenz im Gespräch mit anderen abgleichen. Besonders Frauen, die
für die Pflege sozialer Beziehungen zuständig gemacht wurden, können
hieran ihre soziale Kompetenz aktivieren und wenigstens virtuell die
komplexe soziale Welt durchschauen und in ihr soziale
Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Damit wird ferner ihre
Ausgrenzung aus der Öffentlichkeit aufgehoben und sie treten aus der
passiven Beobachterinnenposition heraus. In der para-sozialen
Kommunikation geschieht dies virtuell, in der sozialen aktiv. |
Schön weinen |
Die Weckung von Anteilnahme des
Publikums am Schicksal der fiktiven Personen ist elementar für den
Erfolg der populären Erzählungen. Damit sie stattfindet, muss es sich
wieder erkennen können. Gleichzeitig muss es etwas über das Bekannte
Hinausweisende entdecken. Die Lust an der Erzählung braucht
Anteilnahme und Distanz. Ein reines "so-wie-ich" und ein reines "ganz-anders-als-ich"
hebt die Spannung zwischen Nahem und Fernem auf. Diese macht die
Unterhaltung aber gerade attraktiv. Deshalb ist Skepsis angebracht,
wenn ZuschauerInnen das distanzierte Lustig-Machen als einzigen Reiz
für das Sehen nennen oder wenn behauptet wird, ZuschauerInnen könnten
keine Distanz mehr einnehmen. Auch wird erklärbar, dass viele
ZuschauerInnen in Mexiko sich ärgern, weil sie eigentlich gerne die
Geschichten sehen, aber ihre Anteilnahme dadurch gehindert werden,
weil die Konstruktion der Plots oder die schlechten DarstellerInnen
die Novelas für sie "un - realistisch" werden lassen. Ohne
Wiedererkennung (wie es z.B. bei einem Dokumentarfilm der Fall sein
kann) wird die Erzählung nicht so genossen, weil erst durch sie eine
persönliche Anteilnahme geweckt wird. Auch reine Wiedererkennung hat
für die ZuschauerInnen oft keinen Reiz, denn erst Wiedererkennung und
Neugier zusammen bilden ein Spannungsfeld, das Gefühle von sozialer
und psychischer Beweglichkeit vermittelt.
Die Möglichkeit, Anteil am Leben der Figuren zu nehmen und damit Teil
der Handlung zu werden, erlaubt ein intensives, situatives Miterleben
von dramatischen Entwicklungen, Leid, Traurigkeit und Freude, ohne
jedoch selber mit konkreten Konsequenzen konfrontiert zu sein. Wenn
einE ZuschauerIn eine Erzählung lobt mit den Worten "Ich hab' so schön
geweint!", dann bezeichnet er/sie damit den Genuss an ungebrochenen
Gefühlen, die nicht zu Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit führen. Sie
sind real, werden aber in fiktiven Welten glücklich aufgelöst. Im
Alltag, der oft wenig Möglichkeiten bietet, sich den eigenen Gefühlen
hingeben zu können, erlaubt die Anteilnahme ohne Handlungszwang
emotionale Intensität und Lebendigkeit. Bei der Konstruktion
von Bekanntem und Fremdem lassen sich auch wieder Verbindungen
zwischen verschiedenen Erzählformen ausmachen. Das "Fremde" bestand im
Märchen aus Erfahrungen, die in der Ferne oder in vergangener Zeit
gesammelt wurden (Benjamin 1980: 385 ff), Feuilleton und Telenovela
bringen es durch fiktive Gehalte hinein, die allerdings nicht
geografisch oder zeitlich "fern", sondern eher außeralltäglich sind.
Somit wird das Alltägliche dramatisiert (Murdock 1987: 68). Um
Dramatik zu erleben, müssen die ZuschauerInnen den Alltagshorizont
nicht verlassen. Nicht selten symbolisiert die Welt der Reichen das
ganz Andere. Das "Nahe", das an die realen Erfahrungen des Publikums
anknüpft, drückt sich bei allen hier behandelten populären Erzählungen
in der Durchschnittlichkeit und Alltäglichkeit der Figuren aus. Eine
reiche - ganz andere - Figur hat also durchschnittliche Empfindungen
und Haltungen und ähnelt damit einem großen Teil des Publikums.
Die Allgemeinheit der Figuren wird dadurch hergestellt, dass sowohl
die Charaktere als auch die durchlebten Situationen und ihre
Auflösungen flächenhaft und in entgegengesetzten Polen gezeichnet
sind. Seit dem Melodrama dienen der Dialog, der körperliche Ausdruck,
die äußere Erscheinung, der szenische Raum und die Klangeffekte zur
oberflächlich-eindeutigen Bezeichnung von Figuren und Situationen. Das
"Melos" im Drama bedeutet, dass das Gesprochene durch Musikuntermalung
und Mimik (als stummer Begleitmusik) verstärkt bzw. erklärt wird. Was
die Worte nicht an Empfindungen mitteilen können, übernimmt die
musikalische Untermalung (Schmidt 1986: 57 ff; 127 ff). Die
typisierten Modelle sind in allen hier behandelten Erzählformen in
Bezug auf Zeit und Raum kulturell unterschiedlich ausgestaltet.
Kulturell übergreifend ist jedoch, dass sie sehr intensiv geschildert
werden (Stamer 1985: 12). Flächenhaftigkeit der Darstellung und
moralische Polarisierung ermöglichen ein sofortiges Einordnen und
Erklären von dramatischen Konflikten. Erzählungen mit solchen
Elementen sind populär, weil sie sich gut in einen Alltag einfügen
lassen, der keine Kulturrezeption in aufgeräumter, konzentrierter
Situation erlaubt. Der Unterschied zwischen Märchen, Melodrama
und Telenovela besteht darin, dass im Märchen nur selten Gefühle zur
Sprache kommen (Märchenhelden können z.B. als grausam geschildert
werden, ohne dass dies als moralisch verwerflich gilt), während sie in
der Telenovela gerade im Hauptinteresse stehen. Aufgrund der
Gleichgültigkeit gegenüber den emotionalen Folgen eines Ereignisses
wird im Märchen nicht das Böse oder das Gute selbst behandelt, sondern
nur die ungerechte oder gute Situation, die es hervorbringt und welche
die HeldInnen aus dem Weg räumen (Jolles in Schödel 1977: 41 f).
Demgegenüber ist es im Melodrama und in der Telenovela sehr wichtig,
sowohl die Ausprägungen des Bösen und des Guten als auch die
Bestrafung und die Belohnung und die damit verbundenen Gefühle jeweils
ausführlich zu schildern. Darin lehnen sie sich an das bürgerliche
Drama an: Gefühle sind der menschlichen Verstellung und menschliche
Stärken dem gesellschaftlichen Stand überlegen (Geiger/Haarmann 1978:
36 f). Allerdings ist für das Bürgertum die Kontrolle der Gefühle
wichtig, während im Melodrama die Affekte eher verstärkt werden.
Der Weg zu der besseren Welt führt sowohl im Märchen, als auch in der
Telenovela nicht unbedingt über Intelligenz, sondern im Märchen sind
es z.B. Mut oder ein Verständnis der "Sprache der Dinge" (Wollenweber,
zit. in Schödel 1977: 65), die zum Ziel führen. In der Telenovela
stellen z.B. das richtige Gefühl und die Bewahrung der persönlichen
Würde wichtige Antriebskräfte für den Weg zum Ziel dar. Gefühl und
Tugend sind identisch. Die alltäglichen Figuren können auch großartige
Gefühle und ein gesellschaftlich anerkanntes Moralempfinden haben.
Mit diesem Unterschied werden entscheidende kulturelle Veränderungen
in die Erzählung aufgenommen. Seit der Aufklärung werden Erklärungen
der Welt im Diesseits gesucht. Das Individuum und seine unmittelbare
Wahrnehmung wird zum Bezugspunkt für das, was als real gilt. Nach
Richard Sennettt wird dadurch umgekehrt auch von jeder Äußerung der
Menschen darauf geschlossen, "wer sie wirklich sind" (Sennett 1983:
198). Demnach wird eine Person nicht mehr daran gemessen, was sie tut,
sondern daran, wer sie ist, beziehungsweise, wie sie sich als Person
darstellt. Nach Sennett führt dies dazu, dass sich die Menschen
bemühen, in der Öffentlichkeit vorsichtig mit ihren Äußerungen zu sein
und sich auf das passive Beobachten zu verlegen. Der Privatraum wird
zur "Schutzzone", in der man vor der Öffentlichkeit verborgen zeigen
kann, "wer man wirklich ist" (Sennet 1983: 192).
Gerade das Melodrama dringt nun in diese Schutzzone ein und zerrt die
Geheimnisse der Privatsphäre ans Licht. Dies ist umso attraktiver für
Frauen, da ihre weibliche Beziehungsarbeit sonst völlig aus der
sozialen Sphäre in der "Dunkelkammer" der Familie unsichtbar wird. Das
Wiedererkennen - die Anknüpfung an die Alltagsrealität - setzt also im
Melodrama genau daran an, zu erkennen, wer der andere ist, der/die
sich in der Öffentlichkeit verbirgt. Für das Publikum ist eine
Identifikation, also ein "so wie ich", innerhalb eines solchen
Verständnisses über eine Wesensgleichheit zu vermitteln. Es ist nicht
so bedeutsam, was die Figur tut - ob sie z.B. in einem Büro oder im
informellen Wirtschaftssektor arbeitet -, sondern wie sie fühlt.
Telenovela-ZuschauerInnen heben z.B. nicht so sehr hervor, welche
ökonomischen Probleme eine Figur hat, sondern "dass sie so viel leiden
muss, und das kenne ich auch." Alle hier aufgezeigten Linien und
Weiterentwicklungen von traditionellen zu modernen populären
Volkserzählungen zeigen somit, dass die Telenovelas beziehungsweise
ihr Vorbild Soap Opera nicht erst seit der Entstehung des Fernsehens
oder des Radios ihre Massenattraktion entwickeln konnten, sondern dass
bestimmte Erzählstrukturen an den jeweiligen
gesellschaftlich-kulturellen Kontext und an die jeweilige Erzählmedien
angepasst wurden. Das weltweit für breite Massen zugängliche Fernsehen
ist der Geschichten-Erzähler der modernen Welt. Deshalb müsste nicht
nur die (angebliche?) entfremdende Wirkung beklagt werden, sondern es
wäre lohnenswert, darüber nachzudenken, auf welche Weise gute
Geschichten erzählt werden können. Die Lust des Publikums ist schon
da. |
Literatur
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Barbero, Jesús u.a. 1992: Televisión y melodrama. Bogotá
Mattelart, A., M. 1987: Carnaval de las imagenes. Madrid
Monsivaís, Carlos 1988: Escenas de pudor y liviandad. México
Reyes de la Maza 1986: La telenovela. Género literario del siglo XXI?
Interview in: Unomasuno v. 13.12.1986, México, S. 23 Sennett,
Richard 1983: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei
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Ästhetik des Meolodramas: Studien zu einem Genre des populären
Theaters im England des 19. Jahrhunderts. Heidelberg
Trejo Delarbre, Raúl 1985: Televisa. El quinto poder. México
Trejo Delarbre, Raúl 1988: Las redes de Televisa. México |
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